Neu im Kino: "Standing Operating Procedure":Der kalte Blick

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"Folter um keinen Preis" - gerade weil Errol Morris diese Haltung zunächst verweigert, ist sein Film über den Folterbunker Abu Ghraib so großartig geworden.

Tobias Kniebe

Die moralischen und ästhetischen Kriterien, die ein Dokumentarfilm über Abu Ghraib erfüllen sollte, sind im Grunde völlig klar. Man würde zum Beispiel gern Mitleid spüren. Die erniedrigten und gequälten Iraker, um die es geht, hätten endlich auch eine Identität, eine Stimme, ein Leben jenseits ihres Opferstatus verdient; gleichzeitig müsste man die Täter in die Enge treiben, auf der untersten wie auf der höchsten Ebene, immer wieder mit ihren Lügen und Ausflüchten konfrontieren, nach einem Hauch von Bedauern forschen.

Zur unzweideutigen Haltung - Folter um keinen Preis - käme zudem ein tiefer Respekt vor den Fotodokumenten des Grauens, die viel zu gewaltig sind, um noch Raum für eigene Bild-Imagination zu lassen. Einverstanden? Dann also los.

Schon einmal entsetzt

Bevor es aber losgeht, stelle man sich doch für einen Augenblick vor, wie langweilig dieser Film wäre. Sich über weltumspannend publizierte Verbrechen, die nahezu die komplette Menschheit schon einmal entsetzt haben, von Neuem aufzuregen.

Mit einem hochsensiblen Opfergespräch den offensichtlichen Gutmenschen-Bonus zu erwerben, dann im harten Kreuzverhör einer Täterin wie Lynndie England die wohlfeile Heldenmedaille abzustauben.

Überhaupt welch hirntote Qual: Ein mehrjähriges filmisches Unternehmen anzupacken, dessen Ausgang so von vorneherein klar wäre wie hier. Die zahlreichen Kritiker des Films "Standard Operating Procedure" hätten den Dokumentarfilmer Errol Morris wohl gern zu dieser Qual verurteilt - im Dienst der guten Sache.

Analytisch, unbewegt, brillant

Stattdessen hat Morris einen hochglänzenden, hochinformativen Film über Abu Ghraib gedreht, dessen Kern so analytisch, kalt und erschreckend ist, dass man nicht einmal sagen kann, wo der Autor selbst eigentlich steht. Und genau darin liegt seine verstörende Größe.

Denn der tatsächliche Wahnsinn dieses kafkaesken Folterbunkers enthüllt sich zum Beispiel gerade nicht aus der Position der moralischen Klarheit heraus.

Schlagend wird er erst in dem Moment sichtbar, wo Morris auch Verhörexperten des US-Militärs befragt, sich versuchsweise auf deren Weltsicht einlässt, auf die kühle Kosten-Nutzen-Rechnung des Pentagon.

Aus Protest für immer verstummt

Erst da wird klar, dass hier vor allem unschuldige, ahnungslose Taxifahrer und Straßenhändler gepeinigt wurden - und dass selbst aussagewillige Funktionäre des Saddam-Regimes, kaum waren sie den ersten Erniedrigungen durch die Amerikaner ausgesetzt, aus Protest für immer verstummten.

"Nicht ein Fitzelchen sinnvoller Information" habe die gesamte Folteroperation in Abu Ghraib erbracht, sagt ein Verhörexperte, der dort war und der es wissen muss. Wie bitte? Und dafür ruiniert eine Weltmacht ihren Ruf für die nächsten hundert Jahre, büßt den letzten Anschein ihrer Legitimität ein? Warum??

Lesen Sie auf der zweiten Seite, warum Morris eine künstliche Horroratmosphäre schafft.

Der Donnerhall dieses Warum klingt lauter durch "Standard Operating Procedure" als durch jedes andere mir bekannte Dokument über den "War on Terror".

Der üblichen These von der gewissenlos intelligenten Brutalität einer unaufhaltsamen amerikanischen Kriegsmaschinerie stellt er die himmelschreiende Dummheit und Sinnlosigkeit gegenüber, mit der sich die Ereignisse tatsächlich abgespielt haben.

Analyse voll schockierender Erkenntnisse

In seiner Kälte, seiner scheinbaren Indifferenz gegenüber Einzelschicksalen und seiner Weigerung, sich gleich auf moralische Positionen zurückzuziehen, ist dieser Film tatsächlich eine Art systemtheoretische Analyse voll schockierender Erkenntnisse.

Die peinliche genaue Erforschung, wie die ikonischen Bilder der Folter wirklich zustande kamen, diese nackten Männer an Hundeleinen, die grinsende Soldatin neben der verstümmelten Leiche, der Mann mit der schwarzen Kapuze, sie zeigt vor allem eins: Bilder können lügen wie gedruckte Geständnisse, aber auf völlig verquere Weise erzählen sie dann doch wieder die Wahrheit.

Die Akteure dieser Aufnahmen, überfordert, dämlich, spielerisch menschenverachtend, ohne klaren Auftrag, entpuppen sich vor Morris Kamera gerade in ihrer Ziellosigkeit zugleich als harmloser und erschreckender als erwartet.

Bizarre Form der Wahrheitsfindung

Am Ende war es allein ihre Idiotie, die das Wirken jener wirklich gefährlichen Folterknechte, die niemals Bilder hinterlassen und bis heute anonym sind, neu ins Bewusstsein der Welt eingebrannt hat - eine besonders bizarre Form der Wahrheitsfindung.

Errol Morris' größte Stärke ist das unbewegte Starren auf die Welt, das all seine Werke prägt, von "The Thin Blue Line" bis zu "The Fog Of War". Dafür hat er sich eigens eine Spezialkamera gebaut, die ihn als Frager und menschlichen Ansprechpartner aus der Schusslinie nimmt - so lang, bis sich viele Geheimnisse von selbst enthüllen.

Künstliche Horroratmosphäre

Seine größte Schwäche ist die Angst, dieser Ansatz könne auch für sein Publikum zu unpersönlich sein. Nur deshalb versucht er wohl, hier mit aufwendig nachgestellten Szenen zu beeindrucken, noch einmal künstlich eine Art Horroratmosphäre zu schaffen: Bellende Hunde in Großaufnahme, hochdramatische Danny-Elfman-Musik, Lichtreflexe in Blutstropfen.

Mit Morris' eigentlichen Zielen hat das nichts zu tun - zugleich aber wäre es Unsinn, sich der eindrucksvollen Erfahrung seines Films nur deshalb zu verschließen. Die Erkenntnisse, die man gewinnen kann, wenn man nicht immer auf dem sichersten Standpunkt und dem naheliegendsten Gefühl beharrt, sind erstaunlich genug.

STANDARD OPERATING PROCEDURE, USA 2008 - Regie und Buch: Errol Morris. Kamera: Robert Chappell, Robert Richardson. Musik: Danny Elfman. Verleih: Sony Pictures, 116 Minuten.

© SZ vom 30.05.2008/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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