Netzkolumne:Prognosestress

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Der Historiker Peter Turchin will die Zukunft berechnen. Zusammen mit vielen Kollegen hat er eine gigantische Datenbank aufgebaut, die sämtliches Wissen über die menschliche Geschichte an einem Ort konzentrieren soll.

Von Michael Moorstedt

Mit optimistischen Zukunftsprognosen ist man im Silicon Valley und den angeschlossenen Denkfabriken schnell bei der Hand. Für das Jahr 2030 etwa prophezeien uns schlaue Menschen ein Leben mit Ersatz-Organen aus dem 3-D-Drucker, künstliche Intelligenzen im Vorstand von Weltkonzernen und ein Dasein ohne jegliche Displays, weil wir die virtuelle Realität direkt auf die Netzhaut projiziert bekommen.

All diese Weissagungen schwelgen in einer geradezu weltvergessenen Technikgläubigkeit. Gehen wir zehn Jahre zurück und schauen, was damals für 2020 vorhergesagt wurde. Da wäre unter anderem eine Internetsuchmaschine, die direkt auf die Hirnströme des Nutzers zugreifen kann, der Sieg über den Welthunger dank gentechnisch veränderter Pflanzen und ein baldiges Ende der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen.

Ganz so ist es bekanntermaßen nicht gekommen. Peter Turchin hat da schon eine wesentlich bessere Bilanz vorzuweisen. Dabei ist der Mann nicht etwa Futurologe, sondern Historiker. 2010 schrieb er von zunehmender gesellschaftlicher und politischer Instabilität in den USA und Europa. Schaut man aus dem Fenster oder ins Internet, ist man gewogen, ihm zuzustimmen.

Anders als bei den Thinktank-Kollegen beruht Turchins Einschätzung auf historischen Fakten. Nachdem er demografische und sozioökonomische Daten der letzten paar Hundert Jahre analysiert hatte, entdeckte er eine zyklische Wiederholung von Gewalt-Spitzen: um 1870 nach dem amerikanischen Sezessionskrieg; um 1920, zur Zeit von Arbeiterbewegung und antikommunistischem Kampf, und um 1970, zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung und der Opposition gegen den Vietnamkrieg. Folgt man diesem Modell, müssten also 2020 eine neue Unruhe zu erwarten sein.

Genau darum, Muster zu erkennen und vorherzusagen, geht es ja bei Big Data und KI-Anwendungen. Es müssen nur ausreichend Daten vorliegen, die Programmen und Algorithmen als Trainingsmaterial und Quelle dienen. Könnte auch die bisherige Menschheitsgeschichte so ein Datensatz sein? Und wenn ja, wie schafft man es, die Unwägbarkeiten der Geschichte mathematisch und maschinell lesbar zu übersetzen? Zusammen mit vielen Kollegen hat Turchin deshalb eine gigantische Datenbank aufgebaut, die sämtliches Wissen über die menschliche Geschichte an einem Platz im Internet konzentrieren soll.

Benannt ist das Projekt nach Seschat, der ägyptischen Schutzgottheit der Buchhalter und des Ahnenkults. Mithilfe der hier zusammengetragenen Informationen über mehr als 400 menschliche Gesellschaften vom Neolithikum bis ins Industriezeitalter sollen Formeln gefunden werden, die es im besten Fall ermöglichen, Konflikte in Zukunft ähnlich verlässlich vorhersagen zu können wie das Wetter; vielleicht noch mit einem Rat versehen, wie man diese Konflikte vermeiden kann.

Im nächsten Schritt wollen Turchin und seine Kollegen ihre Erkenntnisse in sogenannte agentenbasierte Modelle umwandeln. Dabei handelt es sich um Computersimulationen, die mit Millionen Individuen bestückt sind, die sich entsprechend der Gesetzmäßigkeiten verhalten, die man zuvor glaubt, erkannt zu haben. Man könnte diese virtuellen Gesellschaften per Knopfdruck unterschiedlichen Stressfaktoren aussetzen und die Reaktionen beobachten.

Für Historiker mit einem herkömmlichen Berufsverständnis ist eine solche Herangehensweise unerhört. Wie könne man denn, heißt es aus diesem Lager, singuläre Persönlichkeiten wie Jeanne d'Arc oder Dschingis Khan vorhersagen? Zudem bedeute eine Menge an Daten nicht, dass diese verlässlich sind oder die entsprechenden Chronisten der Nachwelt nicht auch ihre eigenen Vorurteile hinterlassen hätten. Menschen seien nun mal vieles, aber sicherlich nicht berechenbar.

© SZ vom 30.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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