Netzkolumne:Das Internet als Corona-Beichtstuhl

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Wenigstens während der Isolation könnten die Menschen ihr Leben in den sozialen Medien mal nicht aufhübschen.

Von Michael Moorstedt

Was wird in Erinnerung bleiben, wenn wir irgendwann einmal auf die Corona-Krise zurückblicken? Welche Geschichten werden sich die Menschen erzählen? Sollten Social-Media-Posts ein Anhaltspunkt sein, könnte man fast sagen: die gleichen wie immer. Nach anfänglicher Aufregung kehrten die Nutzer schnell zurück zu Fotos von sorgfältig arrangierten Cocktailtomätchen und pastelligen Wohnwelten - nur dass heutzutage hin und wieder ein maskiertes Gesicht zu sehen ist. Wobei der Mundschutz freilich ein interessantes Muster aufweist.

Unsere Eitelkeit war schon immer die größte Triebfeder für die Social-Media-Maschine. Hinzu kommt jetzt noch der Wille, die eigene Souveränität angesichts des Ausnahmezustands unter Beweis zu stellen. Wem es dafür nicht ausreicht, das Bücherregal im Spektralfarbenmuster der Suhrkamp-Bibliothek zu sortieren, für den gibt es ja eine Vielzahl von künstlichen Kulissen, die überdecken, dass sich die Wohnung nach einem knappen Monat Selbstquarantäne - womöglich noch mit Kindern - nicht mehr als Covermotiv für den Architectural Digest eignet.

So sieht man dann seinen Chef die Agenda des Meetings abwechselnd vor einem Bergidyll, Western-Saloon oder fremden Planeten verlesen. Es gibt sogar schon einen Wettbewerb, in dem die kreativsten Hintergründe für die Videokonferenz-Software Zoom prämiert werden. Bei den "Virtual Background Awards" kann jeder seinen eigenen Entwurf einreichen.

Obszönitäten aller Art werden bei diesem Projekt gnadenlos aussortiert

Muss das wirklich sein? Oder könnte man nicht einmal seine Instagram-Gewohnheiten überdenken? Man hätte heutzutage eine "moralische Verpflichtung", sein echtes Leben im Internet zu zeigen und nicht die kuratierte Version, hieß es vor einiger Zeit im Atlantic. Nur so könne sich ein Gemeinschaftsgefühl einstellen. Die Banalität dürfe nicht länger tabuisiert werden. Doch anflutende Depressionen oder ein Zusammenbruch auf dem Küchenboden vertragen sich nun mal nicht so gut mit der idealisierten Online-Persona, die viele Menschen in normalen Zeiten sorgfältig unterhalten.

Die Macher der Webseite The Social Distance Project sammeln deshalb Geschichten abseits der Wohlfühlnarrative. Sie zeigen, was passiert, wenn die Restwelt aus 75 Quadratmetern mit Mini-Balkon besteht, wenn das aufregendste Erlebnis in einer Woche darin besteht, sich mal in die Schlange vor dem Supermarkt vier Straßen weiter einzureihen und wenn sogar das Gedränge in der Fußgängerzone oder eine volle U-Bahn nostalgisch verklärt wird.

Da ist zum Beispiel die Frau, die nach drei Dates mit ihrem neuen Freund in Quarantäne gezogen ist - gemeinsam mit seiner Mutter. Oder die Person, die vor Neid vergeht, weil ihr Partner so viel produktiver ist, als sie selbst. Oder eine Dritte, die verzweifelt, weil sie vor dem Lockdown nicht mehr rechtzeitig zur Intimrasur gekommen ist. Allen gemeinsam ist, dass sie durch die Krise auf sich selbst zurück geworfen sind.

Nun ist es ja nicht gerade die neueste Idee, das Internet als ebenso anonymen wie zugleich hyperöffentlichen Beichtstuhl zu benutzen. Webseiten und Apps wie Whisper oder Secret hatten mit diesem Rezept schon vor Jahren einigen Erfolg. Weil dort aber jeder alles über jeden posten konnte, gingen die Nutzer dazu über, auf diesen Plattformen vor allem die schmutzige Wäsche anderer zu waschen. Das Social Distance Project dagegen ist moderiert. Obszönitäten aller Art werden gnadenlos aussortiert.

So klickt man sich also durch die Bekenntnisse von Menschen, die wegen Kleinigkeiten vollkommen die Fassung verlieren. In normalen Zeiten könnte man das als schnöden Voyeurismus verdammen. Heutzutage erkennt man sich in den Posts der anonymen Menschen wieder. Und findet vielleicht ein bisschen Trost darin, mit seinem eigenen Wahnsinn nicht alleine zu sein.

© SZ vom 20.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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