Netzkolumne:Abstandssummer

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Die großen Digitalfirmen sehen die Corona-Krise vor allem als Chance, neue Programme und Gadgets zu verkaufen, die uns angeblich besser durch die Pandemie helfen. Aber dieser Solutionismus birgt auch Gefahren.

Von MICHAEL MOORSTEDT

Heutzutage müssen wir auf Berührungen weitestgehend verzichten. In der Corona-Welt gibt es nur noch wenig Platz für Nähe. Auch wenn es ein paar Wirrköpfe noch immer nicht wahrhaben wollen, so muss man sich doch darauf einstellen, dass das Virus nicht einfach wieder verschwinden wird. Natürlich wird noch dagegen aufbegehrt. Aber wichtiger wäre es, Wege zu finden, um den permanenten Ausnahmezustand in eine neue Form der Normalität umzuwandeln.

Leider hat sich schnell herausgestellt, dass die Virtualisierung des Lebens, etwa durch Videokonferenzen, nur bis zu einem gewissen Grad Abhilfe schaffen kann. Und nach einer gewissen Weile führt sie bei bestimmten Menschen sogar zu einem massiven Lagerkoller.

Freilich bedarf es schon mehr als einer globalen Pandemie, um den Innovationsdrang der Tech-Branche kleinzukriegen. Reagiert wird mit einer ganzen Welle von neuen Gadgets. Es entstehen Märkte und Möglichkeiten, die noch vor ein paar Monaten niemand auf dem Schirm hatte. In gewissen privilegierten Kreisen ist die Krise noch immer vor allem eine Chance auf neue Geschäfte. Technologiekritiker nennen dieses Denken, das sämtliche Probleme der Welt auf eine technische und klar definierbare Lösung zurückführt, Solutionismus. Allerdings wird dabei die Komplexität dieser Probleme zumeist geschickt ausgeblendet. Groteske Entwürfe und unpraktische Produkte sind oft die Folge.

Manche der in den letzten Wochen und Monaten vorgestellten Konzepte scheinen gar direkt aus der Requisitenkammer eines schlechten Science-Fiction-Films zu stammen. Zum Beispiel das mehr oder weniger tragbare Luftreinhaltesystem, das einer übergroßen Taucherkugel ähnelt. Andere sind zwar schon etwas alltagstauglicher. Die US-amerikanische Produktdesignerin Danielle Baskin hat etwa die Face-ID-Maske entworfen. Dafür wird ein Porträtfoto des Trägers auf den Maskenstoff gedruckt. Mit der erntet man zwar in der Öffentlichkeit irritierte Blicke, kann dann aber immerhin wieder das Smartphone per Bildabgleich entsperren.

Eine der vielen kleinen Gewissheiten, die die Corona-Krise in Frage gestellt hat, ist die Fähigkeit vieler Menschen, Entfernungen richtig einzuschätzen. Eineinhalb Meter, die von Seuchenexperten empfohlene Distanz zu den Mitmenschen, sind jedenfalls wesentlich weiter als gemeinhin angenommen. Eine ganze Reihe von Unternehmen arbeitet deshalb an Proximity-Trackern - kleinen tragbaren Geräten, die via Funk einen dezenten Alarm auslösen, wenn man anderen Trägern zu nahe kommt. Durch genügend Abstand, so die Hoffnung, könnte man eventuell irgendwann auf die Masken verzichten.

Werden die Menschen solche Produkte annehmen? Wer schon von seinem Fitness-Tracker genervt ist, wenn der mal wieder mehr Aktivität auf dem Bürostuhl einfordert, wird sich wohl kaum dem permanenten Summen aussetzen, das den Träger an einem Samstagabend im Supermarkt erwartet. Trotzdem stehen die Chancen nicht schlecht. Nicht wenige Early-Adopter haben sich ja auch schon ohne Seuche permanent von Fitnessuhren vermessen lassen. So könnten die vielen gemessenen Vitalsignale wenigstens einem größeren Nutzen zugeführt werden und dienten nicht nur der individuellen Optimierung.

Das wahre Risiko bestehe dann auch darin, schrieb der Technologie-Kritiker Evgeny Morozov vor einiger Zeit, dass das solutionistische Denken als Standardreaktion für sämtliche andere existenzielle Krisen angewendet werden wird - von gesellschaftlichem Auseinanderdriften bis hin zur Klimakatastrophe. Es ist schließlich viel einfacher, ein paar Gadgets als notdürftiges Flickzeug zu verscherbeln und die nötigen Härten auf den Einzelnen abzuwälzen, als durch konsequentes politisches Handeln die eigentlichen Ursachen zu bekämpfen.

© SZ vom 27.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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