Netz-Depeschen:Software kennt keine Moral

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In vielen Internet-Foren herrscht die Lust am Schock: Mitglieder der Community 4Chan fluten ihnen missliebige Webseiten mit pornographischem Material und haben die Suche nach der größten Scheußlichkeit längst zum Wettkampf erkoren.

M. Moorstedt

Das Internet ist, trotz aller Regulierungsbemühungen, noch immer ein wilder Ort. Bevor Staat und Wirtschaft intervenieren, ist jedoch der Foren-Moderator erste Ordnungs-Instanz und damit eine besonders ungeliebte Person im Web. Stets ist er dem der Verdacht der Nutzer ausgesetzt, Diskussionen zu manipulieren und zu zensieren. Dabei geht es aber nicht nur um verschriftliche Ausfälle und doppeldeutige Tiraden, die plötzlich verschwinden. Auch Foto- oder Videomaterial, das unter Rassismus- oder Pornographie-Verdacht steht, wird zum größten Teil von Menschenhand aussortiert. Software hat noch immer keinen Sinn für Moral und Menschenwürde.

Im Akkord gegen die Anarchie: Pornographische Bilder kursieren im Netz, weitaus verstörendere als dieses hier von Pornostar Jessica Bangkok. Wer kümmert sich darum, dass sie verschwinden? (Foto: AFP)

Bei aller Kritik wird oft vergessen, dass all die Gigabytes von Uploads und User-Generated-Content eben nicht nur aus Belegen des letzten Familienurlaubs bestehen. Mancher Internet-Nutzer nimmt es allzu wörtlich mit der Freiheit des Mediums. In vielen Foren und Messageboards herrscht die Lust an der Provokation und am Schock. Die Mitglieder der Community 4Chan fluten ihnen missliebige Webseiten regelmäßig mit pornographischem Material und haben die Suche nach der größten Scheußlichkeit längst zum Wettkampf erkoren.

Von den großen sozialen Netzwerken und Microsoft, Yahoo oder MySpace wird die Durchsicht des hochgeladenen Materials oftmals ausgelagert. Sogenannte Internet-Screening-Dienstleister, Subunternehmer in Sachen schlechter Geschmack, sitzen in Indien, auf den Philippinen oder auch in den Industrieparks des Mittleren Westens der USA. Hier arbeitet man im Akkord gegen die Anarchie im Netz. Wie die New York Times nun berichtet, empfahl eine Arbeitsgruppe des US-Kongresses, die Online Safety and Technology Working Group, der amerikanischen Regierung vor kurzem, den beteiligten Unternehmen finanzielle Anreize zu bieten, damit diese ihre Angestellten besser über die psychologischen Auswirkungen verstörender Bilder hinweghelfen können. Hemanshu Nigam, früherer Online-Sicherheitschef von MySpace und Beisitzer der Arbeitsgruppe, sagte der Times, er und seine Mitarbeiter hätten "abscheuliche Bilder gesehen, die einen den Rest des Lebens verfolgen", Kinderpornographie, explizite Gewalt oder Missbildungen.

YouTube behilft sich dagegen bei fragwürdigen Videos mit einer Vorauswahl durch einen Algorithmus, der fragwürdige Bilder, auf denen etwa zu viel Haut zu sehen ist, identifizieren soll. Erst im zweiten Schritt kommt das Material vor die Augen menschlicher Mitarbeiter. Zugang zu psychologischer Betreuung ist Teil ihres Vertrags. David Graham, Chef des Moderations-Dienstleisters Telecommunications on Demand, hält seine Angestellten für "Veteranen" im Kampf gegen den schlechten Geschmack. Das Unternehmen überprüft im Schnitt zwanzig Millionen Fotos in der Woche. Der Lohn für die visuelle Schwerstarbeit: acht Dollar die Stunde und komplette Desensibilisierung.

Der Blog BoingBoing griff die Geschichte der traumatisierten Foren-Akkordarbeiter auf, in den Kommentaren meldeten sich daraufhin zahlreiche ehemalige Moderatoren zu Wort und erzählten von ihren Erfahrungen mit dem entfesselten Bildersturm. Wer einmal, so ein Beitrag, acht Stunden am Stück damit zubringe, Videos von illegalen Kämpfen unter Obdachlosen zu zensieren, beginne "stark an unserer Zivilisation und dem Utopia-Potential des Internet zu zweifeln".

© SZ vom 26.07.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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