Digitale Depression:Was ein Ich wert ist

Lesezeit: 3 min

Ruhm und Intimität im 21. Jahrhundert: In ihrem Debütroman "Erhebungen" erzählt Natasha Stagg vom sagenhaften Aufstieg einer Influencerin, stets an der Grenze zum völligen Zusammenbruch.

Von Caspar Shaller

Bevor die Figur der Influencerin das Licht von Instagram erblickte, war Britney Spears bereits zusammengebrochen. 2007 versuchte der größte Popstar der frivolen Nullerjahre aus seinem Mädchenimage auszubüxen. Spears rasierte sich den Kopf und attackierte einen Paparazzo mit einem Regenschirm. Der Fluchtversuch scheiterte. In immer neuen Uploads quäkt sie heute noch auf Youtube herum, ihren Körper schleppt sie derweil über die Bühnen von Las Vegas. Gleich zwei Mal erscheint diese traurige Gestalt in Natasha Staggs Debütroman "Erhebungen", wie ein böses Omen, das die Erzählerin Colleen nicht zu lesen vermag.

Den ersten Auftritt hat Spears als Ware: als Britney-Parfüm, dessen Marktchancen Colleen durch Umfragen eruieren soll. Sie arbeitet bei einem Marktforschungsinstitut, hat aber große, einfache Ziele: reich und von möglichst vielen Menschen gekannt zu werden. Später, als sie in Los Angeles zur Influencerin aufgestiegen ist, stolpert Britney Spears noch einmal durch den Roman. Sie lallt auf einer Promiparty so wirr herum, dass sich Colleen angewidert abwendet. Und auch als Leser wendet man sich fast voller Ekel ab von diesem Roman, von den austauschbaren Charakteren, dem ermüdenden Ennui der Protagonistin und Staggs kalter Sprache, an deren Banalität alles abzugleiten scheint, wie an einem blank polierten Bildschirm.

Doch wohin soll man sich wenden? An seinen besten, einzig wahren Freund, sein Telefon? Ein Blick darauf - auch auf unseren Smartphones lacht eine Person vom Typus der Colleen ihr einstudiertes Lachen. Dahinter lauert eine andere Colleen, hinter der wiederum die nächste wartet, die sich bereits für ihre 15 Sekunden Ruhm aufwärmt. Eine Pandemie der Colleens ist ausgebrochen. Die Glätte von "Erhebungen" ist also Programm.

Natasha Stagg dürfte wissen, wovon sie schreibt: Die Autorin hat einen stratosphärischen Aufstieg aus der staubigen Provinz des amerikanischen Südwestens hinter sich, und darf nun in Brooklyn das glamouröse Leben einer freischaffenden Modejournalistin genießen. Ihre Figur Colleen beginnt ihren Marsch ganz unten, in einem Einkaufszentrum in Nevada. Im starken ersten Drittel des Buches erstellt sie für ein Marktforschungsinstitut Umfragen über Whiskey oder Parfüm. Sie arbeitet mit immer denselben Teilnehmern, die man daran erkennt, dass sie keine Einkaufstüten bei sich tragen. Dabei sucht das Institut wohlhabende Konsumenten, um deren Präferenzen zu prüfen, aber jemanden einige Einkommensstufen höher zu schummeln, ist nicht schwer: "Die Zentrale interessierten nur die Zahlen", heißt es trocken.

Influencerin und Schriftstellerin Natasha Stagg: Als es gut läuft, bekommt die Protagonistin Geld, um Partys zu besuchen, am Ende ist sie ein eifersüchtiges Wrack. (Foto: Chris Filippini)

Auch für Colleen scheinen Ziffern das einzig Wahre zu sein. Zu Beginn reflektiert sie ihren Ausgangswert als Kind nicht prominenter Eltern. Ihre Herkunft habe sie überhaupt erst wertschätzen lassen, wie der Ruhm ihr Leben veränderte: "So aber habe ich zuerst die niedrigen Zahlen angezeigt bekommen, und später dann die hohen."

Und selbst ein schlechtes Date kann ins Plus gerechnet werden, wenn es sich nur finanziell lohnt. Dass Colleen Geld für Sex nimmt, ist aber kein Grund für moralische Bewertungen. "Du wachst auf, und jemand legt deinen Preis fest. Du wirst älter, und dein Preis fällt. Wenn du nicht bezahlt wirst, verlierst du Geld", fasst sie ihre Maxime zusammen.

Auch als sie den eigenschaftsarmen Jim kennenlernt, einen Internetpromi, rechnet sich das. Über ein Jahr daten die beiden nur online, steigern dabei aber gemeinsam die Zahl ihrer Follower. Es ist Colleens Chance. Sie zieht nach Los Angeles, um Jim zum ersten Mal im nicht digitalen Raum zu begegnen. Als sie mit ihm schläft, stellt sich die Leitfrage der Intimität im 21. Jahrhundert: Ist es noch ein One Night Stand, wenn man davor schon ein Jahr lang miteinander gechattet hat?

Jims und Colleens Internetliebe sieht so schön aus, dass sie auf allen Partys gefragt sind, Werbeverträge bekommen und auf Tour durch die USA gehen. Dafür will das Ich sorgfältig kuratiert sein. Stagg beschreibt eingehend, wie Colleen das Baugerüst, das ihr Selbst umstellt, mit dem Werbeplakat ihres öffentlichen Auftritts bespannt. Das Kuratieren beginnt in Nevada, wo Colleen während einer Party ständig auf ihr Telefon blickt, um die Frage nach einer wichtigen E-Mail zu provozieren. Doch erst in Los Angeles nimmt die Arbeit am Selbst vollendete Form an: "Wir fingen an, im Bett mit unseren Laptops regelmäßig Redaktionssitzungen abzuhalten, bei denen wir darüber sprachen, was wir posten wollten, über das, was wir so machten."

Natasha Stagg: Erhebungen. Roman. Aus dem Englischen von Georg Felix Harsch. Nautilus Verlag, Hamburg 2018. 191 Seiten, 19,90 Euro. (Foto: N/A)

Klugerweise erfährt man nie, auf welchen Plattformen die Figuren ihr Leben ausbreiten, noch was der Inhalt ihrer Posts ist. Es ist völlig egal, man kann "es ohnehin online nachlesen", wie Colleen über den Beginn ihrer Beziehung mit Jim sagt. Dokumentiert bleibt auch Jims Seitensprung mit einer Rivalin, die durch den Beziehungsstress bald noch höhere Zahlen vorweisen kann als Colleen selbst. Eifersucht zieht in die Icherzählung ein, wo davor noch Überheblichkeit den Ton bestimmte. Bald ist Colleen ein vor Neid zerfressenes Wrack und schafft es mit knapper Not, sich zu ihrer Mutter nach Florida zu retten.

Als mahnende Erzählung taugt "Erhebungen" aber nicht. Die Dialoge bleiben ebenso banal, so stilistisch flach und monoton wie Colleens innere Stimme. Das mag Absicht sein, doch Stagg wird kein Bret Easton Ellis für die 2010er-Jahre. Wo Ellis' Roman "Unter Null" vom ersten Buchstaben bis zum letzten Punkt den Nihilismus seiner drogenabhängigen Hollywoodteenager zeigte, rutscht "Erhebungen" zu oft von der Oberflächlichkeit Colleens in soziologische Aphorismen ab: "In der Zukunft wird niemand mehr berühmt sein wollen, genauso wie heute niemand mehr ausgebeutet werden will." Ist das Tiefgründigkeit oder nur die Simulation davon? Dann lieber in den ehrlichen Worte von Britney Spears: "You want a hot body? You want a Bugatti? You better work, bitch!"

© SZ vom 29.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: