Nachruf:Verlorene Illusionen

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Rafael Chirbes war der Chronist Spaniens vom Ende der Diktatur bis zum Platzen der Immobilienblase.

Von Sebastian Schoepp

Vom Fenster seines Hauses in dem Dorf Beniarbeig aus konnte Rafael Chirbes die Fieberkurve des spanischen Wahns genau verfolgen. 2008 zählte er 72 Baukräne da unten an der Costa Blanca, dem wohl am meisten vom Tourismus und Immobilienwahn geschundenen Küstenabschnitt Spaniens. Zwei Jahre später war es dann nur noch einer. Die Blase war geplatzt, Chirbes hätte sich triumphierend bestätigt fühlen können - wenn denn Triumphalismus zu seinen Eigenschaften gezählt hätte.

Niemand hat die Auswüchse des spanischen Immobilienwahns treffender beschrieben als er, niemand das Platzen der Blase so zielsicher vorausgesagt. In "Krematorium" (2007), seinem größten Roman, der auch der größte Roman Spaniens seit der Jahrtausendwende war, beschrieb Chirbes den Untergang eines Mittelmeerortes im Bauwahn, einer Stadt, "die wie eine Anhäufung von Tumoren wächst", die "nichts ist, Abriss des Gewesenen und Baugerüst des Kommenden". Er beschrieb das Hinschlachten einer idyllischen Küste, das Ende einer mediterranen Lebensform, die mit den Feigenbäumen und Orangenhainen fällt und als Themenpark neu ersteht.

In "Krematorium" zeichnete Chirbes nach, wie alles begann im Koksrausch, im Rausch der billigen Kredite, als Ausdruck des intellektuellen Nihilismus einer Generation. Einen seiner Protagonisten lässt er sagen: "Wir haben eine beispiellose Phase des Fortschritts durchlebt, können aber mit dem, was sie uns bietet, nichts anfangen." Dieser Generation, "eingedickt vom Leben", sei einfach nichts Besseres eingefallen, als die Landschaft - und mit ihr alle humanen Werte - zuzubetonieren.

Letztlich ging es Chirbes aber nicht nur um Spanien, sondern um ein fehlgeleitetes Wirtschaftsmodell, dem ganz Europa anhängt. Die Krise des Südens ist für ihn die Folge einer humanitären Krise: "Wenn wir nicht glücklicher gewesen sind, dann vermutlich deshalb, weil das Wesen des Menschen nicht viel mehr hergibt." Die Fähigkeit, innere Vorgänge lokaler Protagonisten auf universell nachvollziehbare Weise zu analysieren, hat Chirbes zu einem der wenigen spanischen Autoren gemacht, die jenseits der Pyrenäen gelesen wurden - sogar mehr als in der Heimat, wo es zu Kritikerpreisen, aber nicht zu Verkaufserfolgen reichte. In Spanien sind derart selbstkritische Stimmen nicht beliebt.

In seinen früheren Werken analysierte Chirbes sein eigenes Umfeld, die Generation der transición, des Übergangs zur Demokratie nach 1975, die später feststellen musste, dass diese Demokratie nicht so geraten war, wie sie sich das vorgestellt hatte. In "Alte Freunde" (2003) schilderte er den Clash zwischen dem Erwünschten und dem Erreichten. Sein Kollege Antonio Muñoz Molina schrieb in El País: Chirbes sei nie zum Modeautor geworden, weil er die Schwächen Spaniens schon zu Boomzeiten bloßlegte, noch bevor die gesamte Selbstbesoffenheit im gewaltigsten Kater seit dem Verlust Kubas 1898 endete.

Chirbes stellte wie Balzac die Geschichte als die Summe individuellen Handelns dar. So entstand in seinen vielen Romanen eine Chronik politischer Veränderungen, die meist nichts zum Besseren wenden. "Bösartig ist der Gute, der besiegt wurde", lautete einer seiner Schlüsselsätze. Im direkten Umgang wirkte Chirbes dagegen überhaupt nicht pessimistisch, im Gegenteil - er war ein mediterraner Intellektueller alter Schule, ein Caballero, knorrig wie eine Steineiche, dabei unkompliziert, liebenswürdig und voll "nüchterner Zärtlichkeit", wie es Muñoz Molina ausdrückte.

Am Samstag ist Rafael Chirbes im Alter von 66 Jahren einer Krebserkrankung erlegen. Kurz zuvor hatte er den Roman "Paris-Austerlitz" fertiggestellt, der, wie der Verlag mitteilt, in Spanien in Kürze erscheinen soll.

© SZ vom 17.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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