Nachruf:Schlacht am Alphabetos

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Andrej Bitow zerschredderte Plots, kündigte Bedeutungen auf, ließ Handlungsfäden verflattern: Der russische Schriftsteller respektierte allein die Macht der Sprache.

Von Lothar Müller

Vor gut zehn Jahren las Andrej Bitow im Literarischen Colloquium am Wannsee in Berlin aus einem schmalen Buch, auf dessen Umschlag ein Hahn in den Farben der deutschen Flagge einherschreitet. In seinem Text "Der achte Deutsche" rückten die Kindheitserinnerungen an den Hungerwinter 1941/42 während der Blockade Leningrads an die Seite grotesker Begegnungen mit Nachkriegsdeutschen, etwa mit einem "Fachmann für Schwalbenimport", dem er auf einer kroatischen Insel begegnete.

Bitow, Autor der Bücher "Armenische Lektionen" und "Georgisches Album", kannte sich aus mit dem Süden, mit Krim und Kaukasus, die in der russischen Literatur eine ähnliche Rolle spielen wie Italien in der deutschen. Gelegentlich sprach er von den "mindestens zwei" Tropfen tscherkessischen Blutes, das er Vorfahren aus dem Nordkaukasus verdanke. Auch seine Texte über die Deutschen spielten mit der Tradition: "Dass der Mond in Hamburg hergestellt wird, hat bereits Gogol entdeckt."

In Bitows großem Roman "Das Puschkinhaus" fährt der Wind durch St. Petersburg, und es ist zugleich eine Wasserstadt, beide Elemente arbeiten an der Erosion der festgefügten Wirklichkeit. Der Abgesang auf die "Tauwetter"-Periode geht in die hochprozentige Stagnation der Breschnew-Ära über. Die Hauptfigur Ljowa Odojewzew, wie ihr Autor 1937, im Jahr des großen Terrors geboren, führt nicht nur tief hinein in den Alltag der Sowjetunion, sondern ebenso tief in die russische Literatur, aber so, als habe jemand den breiten Strom von Puschkin bis zu Tolstoi und Tschechow mit einem elektrischen Quirl aufgeschäumt, zu einer Gischt von Details, Wortkaskaden und Assoziationen. Und da der Autor in Kommentaren und Einschüben ständig im Roman anwesend war, konnte es nicht ausbleiben, dass Bitow rasch in die Kiste mit dem Etikett "Postmoderne" gesteckt wurde.

Ihm gefiel das ganz und gar nicht, und er wurde nicht müde zu versichern, die Vorbilder seiner Vexierspiele entstammten der Vergangenheit, etwa dem "Tristram Shandy" von Laurence Sterne oder Puschkins "Eugen Onegin". Seinen Roman "Der Symmetrielehrer" hat Bitow in den frühen Siebzigerjahren begonnen, von 1987 an teilveröffentlicht und nach dem Zerfall der Sowjetunion immer weiter angereichert, auf Deutsch erschien er 2012.

Manchen Namen kann man schon an der Nasenspitze ablesen, dass sie erfunden sind. Der Name des Autors "A. Tired-Boffin" der das Buch "The Teacher of Symmetry" verfasst haben soll, das der Erzähler lediglich übersetzt haben will, gehört dazu.

Haben Namen Nasenspitzen? Bei Bitow schon. Zum einen, weil in der russischen Literatur seit Gogol die Nasen machen, was sie wollen, zum anderen, weil alle Wörter bei Bitow eine Physiognomie haben, nicht nur eine Bedeutung. Er lauscht ihren Lauten nach, und versteckt in den Buchstaben, die diese Laute festhalten, verborgene Botschaften. "A. Tired-Boffin" ist ein Anagramm von Andrej Bitow, in "Urbino Vanoski" ist Nabokov enthalten.

In Bitows "Echo-Roman" gibt es ein Projekt "Zum hundertsten Jahrestag der Abschaffung des Kalenders". Helena und Eurydike haben Wiedergängerinnen im Paris des 20. Jahrhunderts, die Titelheldin des Kriegsschlagers "Lili Marleen" verdoppelt sich in Lili und Marleen, ein Namensvetter von Anton Tschechow gerät in den Wettlauf von Scott und Amundsen zum Südpol, und die "Theorie der universalen Symmetrie", die jemand entwirft, spricht ihrem Titel Hohn. Fragmente von Relativitätstheorie und Psychoanalyse werden wie Laub zusammengefegt.

Bitows "Puschkinhaus" war so etwas wie ein surrealistisches Museum der russischen Literatur, und es ließ sich darin erahnen, dass in der Sowjetunion nicht nur die Sprache der politischen Dissidenz ein Medium der Gegenmacht war, sondern auch das literarische Sprachspiel, das alle verbindlichen Bedeutungen aufkündigte, sich selbst ständig ins Wort fiel, Handlungsstränge ins Luftige verflattern ließ, statt sie fest zu verknüpfen.

In Bitows Werk hat die ästhetische Opposition gegen den sozialistischen Realismus das Ende der Sowjetunion überlebt. "Die große und mächtige, wahrhaftige und freie Sprache" folgte bei ihm dem Gesetz der "Sujetlosigkeit" das er in der russischen Prosa von Puschkin bis Alexander Blok gefunden hatte. Jeder Plot wird hier zerschreddert, alles "Schielen auf eine eventuelle künftige Verfilmung, auf die Leichtigkeit von Lektüre und Übersetzung" verworfen. Gelegentlich treibt es Bitow so toll mit seinen Abschweifungen, Anspielungen, Echo- und Spiegeleffekten, dass man nur noch Bahnhof versteht und das Buch in die Ecke pfeffern möchte.

Aber dann fängt er einen wieder ein mit einem kleinen virtuosen Liebesroman in Versen, mit den "posthumen Papieren des Tristram-Klubs" oder einem Auszug aus dem Buch "Das Papierschwert" mit dem Titel "Die Schlacht am Alphabetos". Es handelt vom Herrscher über die Einträge der Encyclopedia Britannica, und ist eine charmanteste Huldigung an die einzige Macht, die Andrej Bitow respektierte, die Macht der Sprache. Am Montag ist er im Alter von 81 Jahren in Moskau gestorben.

© SZ vom 05.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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