Nachruf:Peter Bürger ist gestorben

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Seine "Theorie der Avantgarde", erschienen 1974, wurde eine der wichtigsten Schriften des Jahrzehnts. Der Literatur­wissenschaftler Peter Bürger verband Lesekunst mit theoretischer Neugier. Nun starb er im Alter von 80 Jahren.

Von Lothar Müller

Wie ein kläffender Hund ist das Adjektiv "abgehoben" dem Begriff "Theorie" auf den Fersen. Gern verbeißt er sich in das Abstrakte, scheinbar Lebensferne. Als Peter Bürgers "Theorie der Avantgarde" 1974 erschien, im Regenbogenspektrum der Edition Suhrkamp zwischen Rot und Violett angesiedelt, zog der Hund den Schwanz ein. "Theorie" war damals ein Zauberwort, es versprach intellektuelle Abenteuer, forderte die Wirklichkeit heraus, konnte Biografien fokussieren und zerstören. Dieses schmale Buch, das auf Hegels Diagnose vom Ende der Kunst und die "Ästhetische Theorie" Theodor W. Adornos antwortete, war vollgesogen mit aktueller Erfahrung. Die "Theorie der Avantgarde" antwortete auf das Scheitern des radikalen Utopismus der Studentenbewegung weder mit Häme noch mit Larmoyanz, sondern mit der Klärung der Begriffe und Historisierung des Kernmotivs der Avantgarden des 20. Jahrhunderts, der "Überführung der Kunst in Lebenspraxis".

Hier, in der Frage nach dem Verhältnis zwischen den Künsten und dem modernen Leben, hatte das Buch sein Zentrum. Kann die Kunst eine Wirklichkeit befördern, improvisieren, ausprobieren, die es noch nicht gibt? Und was, wenn die kritische, rebellische Kunst in der Moderne zu einer "Institution" wird, deren Revolten so unbelangbar wie folgenlos sind?

In der vor Kurzem im Wallstein-Verlag erschienenen Neuausgabe sind im Sommer 2015 verfasste autobiografische Briefe enthalten, die das Leben in der Theorie erkennen lassen, die Jugendjahre eines deutschen Romanisten, das Studium im konservativen Bonn, die Habilitation über Corneille in Erlangen, die Lektorentätigkeit in Lyon, die Entdeckung von Roland Barthes und der Kritischen Theorie. Hinter dem Werdegang zeichnet sich die Kindheit in Hamburg ab. Hier wurde Peter Bürger 1936 geboren, die Mutter Tänzerin und Gymnastiklehrerin, der Vater "Bildhauer ohne Schaffensdrang". Den hatte der Sohn umso mehr. Und das musische Element ist dem Theoretiker nie abhandengekommen. In der Keimzelle alles Späteren, "Der französische Surrealismus" (1971), steckt die Erfahrung von Werken. Bürgers autobiografische Anekdote der Fehllektüre eines Autobusschildes in Lyon ("Rimbaud - Maternité") hält das ästhetische Prinzip fest: Entstellung.

An der Bremer Universität, an die er 1971 berufen wurde, war er den Theorieverächtern unter den Linken verdächtig, seine Fähigkeit, sich in einzelne Kunstwerke zu versenken, mag als bürgerliche Untugend gewirkt haben. 1998, im Jahr seiner Emeritierung, vermaß die Studie "Das Verschwinden des Subjekts" die Welt zwischen Montaigne und moderner Montage. Als Emeritus lebte Peter Bürger in Berlin, schrieb weiter, nicht zuletzt luzide Kunstkritiken über das Krisenbewusstsein in Manierismus und Moderne. Am vergangenen Freitag ist er im Alter von 80 Jahren gestorben.

© SZ vom 16.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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