Nachruf:Genießt es!

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Essen kann sehr viel mehr sein als Nahrungsaufnahme - das haben die Deutschen von ihm gelernt. Ein Nachruf auf Wolfram Siebeck, einen Kulturmissionar, der sich immer wieder selbst revisierte.

Von Gottfried Knapp

Die Deutschen können alles, nur nicht genießen. Wolfram Siebeck muss diesen Satz nicht genau so niedergeschrieben haben, aber zumindest über die drei Wörter nach dem Komma dürfte er lebenslang nachgedacht haben. Was andere, ähnlich große Völkerschaften in Europa - die Italiener, die Franzosen, aber auch die Engländer - auf ihre spezifische Weise an Möglichkeiten des Genießens, des Freude-Empfindens, des Heiter-und Zufrieden-Seins entwickelt haben, ließ Deutschland auf diesen Gebieten immer ein wenig wie ein Entwicklungsland aussehen.

Ein gefragter Kolumnist: Sein Spott über die Tischsitten war legendär

Keiner scheint das in der Nachkriegszeit deutlicher und früher gespürt zu haben als Wolfram Siebeck, der in der Nazizeit aufgewachsen war und unter der Humor- und Freudlosigkeit des fundamentalistischen Erziehungssystems schwer gelitten hatte. Als dann nach dem Krieg vieles von dem, was eben noch verboten war, wieder erlaubt war, muss Siebeck in sich die Lust und die Fähigkeit, schöne Dinge zu genießen und durch Humor das Leben leichter zu machen, entdeckt haben. Jedenfalls ergriff er alle Möglichkeiten, um sich in diese Richtungen weiterzubilden und zu betätigen. Er erlernte den Beruf des Plakatmalers, verschlang begierig ausländische Humor- und Satire-Zeitschriften, versuchte sich als Witzzeichner und kultivierte dann sein fabelhaftes Talent als Erzähler heiter-komischer Kurzgeschichten.

Es gab nicht allzu viele Foren für diese satirisch pointierten Sprach-Leckerbissen. Die Süddeutsche Zeitung aber, für deren Streiflicht der Kritiker und Spaßmacher Siebeck ein idealer Autor gewesen wäre, hatte damals einen Platz, an dem solche heiteren Texte und kalauernden Sprachscherze willkommen waren. Er hieß "Die letzte Seite", war zur Hälfte mit satirischen Zeichnungen und Cartoons bestückt und befand sich auf der letzten Seite der Wochenendbeilage. In diesem Biotop hat Wolfram Siebeck seinen satirischen Stil erprobt, ja seine Meisterschaft im ironisch-spöttischen Formulieren entwickelt. Und Leuten wie dem Schreiber dieser Zeilen hat er gezeigt, welches Vergnügen, ja welchen Genuss man dem Leser bereiten kann, wenn man dem Ernst des Lebens mit Humor begegnet.

Doch die Zeiten änderten sich. Humoristische Zeichnungen oder ironische Texte waren in den Tageszeitungen immer weniger gefragt. Auch in der Süddeutschen mehrten sich die Stimmen, die diese "Letzte Seite" wortwortlich für das "Letzte", also für überflüssig hielten. Und so wurde, gegen den Protest der Autoren und ihrer treuen Leser, die Humorseite eingestellt. Doch Wolfram Siebeck ging damals allenfalls den SZ-Lesern, nicht aber der deutschen Öffentlichkeit verloren. Er hatte schon in seinen kleinen literarischen Wochenend-Spitzen immer wieder die Essens-Sitten der Deutschen verspottet und sich über gewisse kulinarische Gewohnheiten lustig gemacht. So kam es, dass ihm, dem brillanten Ironiker, nacheinander von mehreren Zeitschriften Kolumnen angeboten wurden, in denen er sich über ähnliche Phänomene auslassen sollte. An belehrende Küchen-Theorien oder gar Kochrezepte hat damals niemand - und auch Siebeck sicher nicht - gedacht. Er wusste zu jener Zeit allenfalls, wie man in einem französischen Sternelokal ein vielgängiges Menü mit den entsprechenden Weinen in allen Zügen genießt, doch wie man Köstlichkeiten dieser außerordentlichen Art herstellt, davon hatte er damals keine Ahnung. Aber er fand - was in kaum einer Sprache so schwierig sein dürfte wie im Deutschen - die raunenden Worte, die im Kopf der Leser einen intensiven Nachgeschmack von allen erlebten Details erzeugen konnten. Siebeck übte sich vor seinen deutschen Lesern also in der Rolle des Gourmets.

Und legendär war auch seine Wendigkeit: Im Jahresabstand änderte er seine Meinung

Das Jauchzen über fremdländische Spezialitäten machte dem geborenen Satiriker Siebeck auf Dauer aber nur Spaß, wenn er es mit feinen kritischen Spitzen gegen die deutsche Küche und ihre entsprechenden Alltagsgerichte würzen konnte. Und so bekamen die Leser der Kolumnen und Kritiken im Lauf der Zeit einen ganzen Katalog von deutschen Unsitten geliefert. Da parallel zu der von Siebeck und seinen Nachahmern betriebenen kulinarischen Aufklärung aber auch die ersten Sterne-Köche in Deutschland von sich reden machten und Rezeptbücher auf den Markt warfen, begann sich in Deutschland ein Bewusstsein dafür zu regen, dass auf dem Gebiet der Ernährung, das man während des Wirtschaftswunders peinlich vernachlässigt hatte, einiges nachzuholen und zu verbessern sei. Verstärkt wurde dieser Wunsch nach geschmacklichen Veränderungen durch die Erfahrungen, welche die Deutschen als Urlaubs-Weltmeister im Ausland machten.

Auch Siebeck erkannte die Möglichkeit, wie er seine Landsleute mit Speisen, die etwas Ferienmäßiges an sich hatten, verlocken konnte. Und so ging er von der Beschreibung illustrer Küchenkreationen, die er irgendwo im Ausland genossen hatte, allmählich dazu über, die in den dortigen Sterne-Küchen beobachteten Handgriffe mitzuerzählen, ja die Kombinationen der Bestandteile auf den Tellern rezeptmäßig zu erfassen. Er gab sich seinem Publikum gegenüber also mehr und mehr als ein erfahrener Meisterkoch, obwohl er sich als Praktiker am Herd, wie er selber gerne zugab, erst recht spät in höhere Regionen vorgearbeitet hat.

Wenn man als Leser seiner Zeitungskolumnen, Restaurantführer und Kochbücher seine Sottisen und seine Parolen verfolgte, durfte man staunen über die Wendigkeit, mit der Siebeck manchmal fast im Jahresabstand seine Meinung änderte, neue Maßstäbe bekanntgab und dabei vieles von dem, was er zuvor als Heilsbotschaft verkündet hatte, für überholt erklärte. Man merkte, dass er seinem Anspruch, den kulinarisch erweckten Deutschen auf dem überschaubaren Gebiet der essbaren Dinge ständig neue Verlockungen und Erkenntnisse zu bieten, bei seiner antithetischen Argumentationsweise nur gerecht werden konnte, wenn er sich ab und zu selber widersprach: Er hat also mit voller Überzeugung bekämpft, was er vorher mit schönen Formulierungen gelobt hatte. Natürlich funktionierte das auch in der umgekehrten Richtung.

So haben wir, vom feisten Gegenbild erschreckt, mal mit bebendem Gaumen die kargen Wonnen der Leichten Küche zu genießen gelernt, mal haben wir uns sagen lassen, dass Herzhaftes in der Küche nur entstehen kann, wenn mit den geschmackstragenden Ölen und Fetten nicht gespart wird. Innereien, die überall auf der Welt lieber gegessen werden als in Deutschland, spielte Siebeck gerne mal gegen das beliebte Muskelfleisch aus. Und immer wieder brachte er Frankreich und Italien wirkungsvoll gegen Mitteleuropa und Amerika in Stellung.

Auch mit Österreich und seinen gastronomischen Traditionen konnte er sich nie richtig anfreunden. Als er einen Führer durch die Heurigen-Wirtshäuser Wiens herausgab, machte er sich auf recht snobistische Weise über die absonderlichen Formen der Nahrungsaufnahme lustig, die er dort zu entdecken glaubte.

Doch dass in Deutschland nach Jahrzehnten des gastronomischen Niedergangs in allen Regionen ein Interesse an regionalen und lokalen Besonderheiten erwacht ist, geht zu einem guten Teil auf Wolfram Siebecks unermüdlich wiederholte Anregungen und auf sein präzis formuliertes Lob der Provinz zurück.

Der Einfluss, den der Genießer Siebeck auf das Essensverhalten der Deutschen hatte, ist also wohl kaum zu überschätzen. Doch so wie er mit seinen frühen humoristischen Texten das Humorverständnis der Deutschen nicht beeinflussen konnte, so hat er auch als Papst des Geschmacks die Deutschen nicht zu Genießern machen können. Am Donnerstag ist er gestorben.

© SZ vom 09.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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