Nachruf:Freude und Schrecken

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Michael Gielen (1927 - 2019), hier bei der Arbeit im Jahr 1985. (Foto: ullstein bild via Getty Images)

Der Dirigent Michael Gielen hat in Frankfurt und Stuttgart Operngeschichte geschrieben. Er setzte sich für die Avantgarde ein und suchte als Aufklärer stets nach musikalischer Wahrheit. Im Alter von 91 Jahren ist er nun gestorben.

Von Wolfgang Schreiber

"Die Hauptheldentat in meinem Leben" - so nannte der Dirigent Michael Gielen später einmal das Faktum, dass er am 15. Februar 1965 die Oper "Die Soldaten" des Komponisten Bernd Alois Zimmermann in Köln aus der Taufe gehoben hat. Der Dirigent Wolfgang Sawallisch hatte die Uraufführung wegen "Unaufführbarkeit" der horrend schwierigen Partitur abgelehnt. Es sprang ein der 38-jährige Michael Gielen und dirigierte die wuchtigste Oper der zweiten Jahrhunderthälfte, das bis heute erschütternde Mahnmal gegen den Krieg.

Die Biografie Michael Gielens ist wie ein Spiegel des 20. Jahrhunderts. Dazu gehört zentral jener Konzertmoment im Jahr 1978, als der gerade zum Frankfurter Opernchef aufgestiegene Musiker es wagte, zwei scheinbar grundverschiedene Komponisten miteinander kurzzuschließen: Ludwig van Beethoven und Arnold Schönberg. In einem Frankfurter Konzert konfrontierte Gielen das Finale der Neunten, Schillers Ode an die Freude, mit der Auschwitz-Kantate "Der Überlebende aus Warschau" - also das emphatische "Seid umschlungen, Millionen!" mit dem Morden im KZ, dem hier intonierten Todeslied der Juden "Shema Yisroel". Wie kam Michael Gielen zu dieser furchtbaren Antithese?

Gielen hat sich damals dazu geäußert. Das Chorfinale der Neunten sei gleichbedeutend mit dem Rückzug Beethovens von den Idealen der Französischen Revolution im Zeichen der Freiheit und Brüderlichkeit. "Wie wurde", fragte Gielen, "aus den revolutionären Ideen des Sympathisanten Beethoven . . . die diffuse Idealität einer Menschenliebe, die im Geist Millionen umarmt, in der Praxis aber alles beim Alten lässt?" Beethovens Kraft der Verinnerlichung sei es gewesen, die "den Vormarsch der Reaktion bis zum Wiener Kongress und zum Biedermeier" reflektierte. Dagegen setzte Gielen Schönbergs "Überlebenden" als Zeichen eines realen Terrors, "eine Musik des Schreckens". Gielen streng: "In der Welt nach Auschwitz und Hiroshima bleibt Schillers Ode hohl."

Der konstruktiven Logik und der Expressivität der Avantgarde wollte er nicht abschwören

So unerbittlich kann ein Musiker mit der klassischen Musik umgehen. Michael Gielen wollte die historischen und philosophischen Hohlräume der Musikwerke, die er dirigierte, befragen. Das gehörte zu seiner künstlerischen Wahrheitsliebe. Der Adorno-Preis der Stadt Frankfurt 1986 gebührte ihm wahrlich. Dank Gielen und seinem Dramaturgen Klaus Zehelein wurde Frankfurt damals eine Hochburg brisanten Musiktheaters, mit Regisseuren wie Ruth Berghaus und Hans Neuenfels. Bis 1987 war Gielen an der dortigen Oper Musikchef und Intendant.

Er dirigierte in Frankfurt die großen Opernbrocken - von der "Entführung" über die "Zauberflöte" bis zu "Doktor Faust", den "Trojanern" und der "Sache Makropoulos", vom "Parsifal" bis zum finalen "Ring des Nibelungen". Das war musikalisches Theater in kantigen Klangverhältnissen, szenisch aufgerissen aus der Tiefe des utopischen Potentials der Stücke. Verdis "Aida" wurde zu einem umkämpften Opernabenteuer - und die scheinbar nur plakative Triumphmarschszene zur rabiaten Gesellschaftsanalyse und Revue-Unterhaltung gleichermaßen.

Das alles hatte mit der Herkunft und bewegten Entwicklung Michael Gielens zu tun, der am 20. Juli 1927 als Sohn eines jüdischen Opernregisseurs in Dresden geboren wurde. Seinen Weg bestimmte der Nationalsozialismus und das Exil in Buenos Aires, dem Flucht-Mekka europäischer Musiker. Dort studierte er - davon erzählte Gielen in in seiner Autobiografie "Unbedingt Musik" - Musik und Philosophie, dort spielte der 11-Jährige Schönbergs frühe Klavierstücke und kam mit der musikalischen Moderne in engsten Kontakt. Er wurde Korrepetitor am Opernhaus Teatro Colón, sogar Assistent Wilhelm Furtwänglers bei dessen Einstudierung der Matthäuspassion.

Gielen kehrte 1950 nach Wien zurück, zu Lehrjahren an der Staatsoper bei Karajan, Böhm und Mitropoulos. Musikdirektor wurde er dann an den Opernhäusern in Stockholm und Amsterdam, beim Nationalorchester in Brüssel, dann folgte an der Frankfurter Oper die "Ära Gielen". Das SWR-Sinfonieorchester machte ihn 1986 zum Chefdirigenten, so wurden die Donaueschinger Musiktage zu seiner Arena des musikalisch Neuen. In Stuttgart wirkte er in die Welt, am Ende wurde er zum erbitterten Gegner der SWR-Orchesterfusion. Immerzu blieb die konstruktive Logik, die Expressivität der Schönbergschule für Michael Gielen das ästhetische Modell - auch für seine raren eigenen, originell unangepassten Kompositionen.

Er absolvierte Pultauftritte in aller Welt, dirigierte mehr und mehr das klassisch-romantische Repertoire von Beethoven bis Mahler, wovon Aufnahmen Zeugnis ablegen - ohne der Avantgarde abzuschwören. Viele Jahre unterrichtete Gielen am Salzburger Mozarteum junge Musiker. Als ständiger Gastdirigent an der Berliner Staatsoper entstanden Aufführungen von Bergs "Lulu" und Schrekers "Der ferne Klang", Gielen dirigierte auch Bellinis "Norma" und Verdis "Macbeth", dazu Konzerte am Pult der Staatskapelle.

Er war ein überaus hellhöriger Kopf, bis hin zu Sarkasmus und Spitzzüngigkeit. Mancher Orchestermusiker fürchtete seine im Dienst musikalischer Aufklärung geäußerte Strenge. Sie hatte nichts mit Laune oder Willkür zu tun - er suchte nach musikalischer Wahrheit. Auch dafür erhielt Gielen im Jahr 2010 den großen Siemens Musikpreis. Vor fünf Jahren zog er sich aus Gesundheitsgründen von der Öffentlichkeit zurück. Jetzt ist Michael Gielen, ein großer Dirigent, doch nicht "Stardirigent", mit 91 Jahren am österreichischen Mondsee gestorben.

© SZ vom 11.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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