Nachruf:Die zerbrechliche Demokratie

Lesezeit: 2 min

Der Historiker Karl Dietrich Bracher war ein Pionier der Politikwissenschaft: Im Alter von 94 Jahren ist er gestorben.

Von Jens Hacke

Obwohl die Politikwissenschaft in Deutschland ein sehr junges Fach ist, nämlich erst in der frühen Bundesrepublik die Universitäten erreichte, sind ihre Gründerväter heutigen Studenten kaum mehr bekannt. Denn die Wissenschaft von der Politik hat sich weitgehend von ihrer Geschichte abgekoppelt. Ein Gelehrter wie Karl Dietrich Bracher, geboren am 13. März 1922 in Stuttgart, der vom promovierten Althistoriker zum Nestor einer analytischen Zeitgeschichte wurde, zugleich aber in wahrem Sinn "Demokratiewissenschaft" betrieb und die Geschichte der Ideologien im 19. und 20. Jahrhunderts souverän überblickte - ein solcher Professor ist an heutigen Universitäten kaum mehr vorstellbar. Wo mittlerweile empirische Gegenwartsfixiertheit, Rational-Choice- oder Governance-Theorien dominieren, hatten Bracher und seine Generationsgenossen Wilhelm Hennis, Kurt Sontheimer oder Hans Maier seit den 1950er Jahren ein umfassendes, normativ geleitetes Verständnis von Demokratie in den Mittelpunkt ihrer Forschungen gestellt.

Als Bracher 1955 seine Habilitationsschrift über "Die Auflösung der Weimarer Republik" veröffentlichte, war dies ein Paukenschlag. Seine Verbindung von historischer, soziologischer, institutioneller und machtstruktureller Analyse überforderte methodologisch notorisch konservative Historiker, die allerdings die profunde Quellen- und Literaturkenntnis des Verfassers anerkennen mussten. Für die Jüngeren erschloss die Lektüre völlig neue Forschungsfelder. Die Frage nach dem Scheitern der Weimarer Republik ließ sich nach Bracher nur noch multikausal beantworten. Langfristige Pfadabhängigkeiten der politischen Institutionen und der politischen Kultur waren ebenso zu berücksichtigen wie die kontingenten Faktoren einer Staatskrise, innerhalb derer bestimmte Akteure unterschiedliche Interessen verfolgten.

Für Bracher, der die Wehrmacht und eine dreijährige Kriegsgefangenschaft durchlebte, blieb die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zeit seines Lebens zentral. Die totalitäre Erfahrung (so ein sprechender Buchtitel Brachers) verlieh seinem Denken eine existenzielle Dimension. Sie hatte die Abgründe des Politischen ausgeleuchtet. Die Fragilität der Demokratie, die Reflexion ihrer Bestandsvoraussetzungen und die Notwendigkeit ihrer geistigen Verteidigung waren Brachers Lebensthemen. Vollends zum wehrhaften Liberalen, der Partei für den jungen westdeutschen Staat ergriff, wurde Bracher, als sich die Neue Linke in den 1960er Jahren systemkritisch gebärdete. Er gehörte zu jenen jungen Professoren, die sich ursprünglich als sozialliberale Reformer sahen, im Zuge der Studentenproteste die Bundesrepublik aber um einen demokratischen Liberalkonservatismus bereicherten und als öffentliche Intellektuelle in den großen Zeitungen Wirkung entfalteten. Der stilsichere Essayist Bracher stritt dabei stets um die Sache und verzichtete auf Polemik - aus dem Historikerstreit der Achtzigerjahre hielt er sich heraus.

Als Verfasser von Standardwerken über "Die Deutsche Diktatur" (1969), "Die Krise Europas" (1979) und "Die Zeit der Ideologien" (1982), einer bis heute maßstabsetzenden Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, erlangte Bracher weltweite Reputation. Trotz zahlreicher anderer Offerten blieb der Begründer des Bonner Seminars für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte seiner Universität bis zur Emeritierung im Jahr 1987 treu. Dass dort sein Rat nicht nur von den Mächtigen der Bonner Republik gehört wurde und aus seiner Schule eine beträchtliche Zahl von Promovierten hervorging, die später im Politikbetrieb Karriere machten, festigte seine dezidiert westdeutsche Perspektive.

Wie viele andere wurde er vom Umbruch im Osten überrascht. Als eigentlicher Schöpfer des Begriffs der "postnationalen Demokratie" (1976) war er für nationalen Überschwang wenig empfänglich. Westbindung und europäische Integration im Rahmen einer atlantischen Wertegemeinschaft blieben die wesentlichen Elemente seiner politischen Überzeugung. Dies klang lange Jahre allzu selbstverständlich und wurde von einer sich immer weiter spezialisierenden und theoriemodenaffinen Politikwissenschaft als vorgestrig belächelt. Zunehmende Spaltungen im Westen, neue Demokratiemüdigkeit und Anfälligkeiten für autoritäre, antiliberale und populistische Bewegungen machen Brachers Demokratielehre und seine Sorge um die Stabilität des westlichen Modells wieder aktuell. Man würdigt sein eindrucksvolles Lebenswerk am besten, indem man ihn wieder liest. Karl Dietrich Bracher starb am 19. September in seiner Heimatstadt Bonn.

© SZ vom 22.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: