Nachruf:Der Letzte seiner Zeit

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Kein Staat der Welt nahm die Worte seine Dichter ernster als die Sowjetunion, und er war ihr großmäuliger und jugendlicher Held: Zum Tod des russischen Poeten Jewgenij Jewtuschenko.

Von Sonja Zekri

Die Sechzigerjahre in der Sowjetunion waren berauschende und beängstigende Zeiten, auch und vor allem für ihre Dichter. Einer der größten, der Popstar, der Volkstribun, der großmäulige, geschmeidige, strahlend jugendliche Held mit den blitzenden Augen und der monumentalen Geste, der Sportarenen und Kulturpaläste füllte, mit Pablo Picasso posierte und mit Robert Kennedy Geburtstag feierte, war Jewgenij Jewtuschenko. Er wurde wahrscheinlich, sicher sind sich die Biografen nicht, am 18. Juli 1932 in Sima, einer Siedlung an der Transsibirischen Eisenbahn in der Nähe des Baikalsees geboren. Er starb am Samstag in Tulsa, Oklahoma, im Kreise seiner Familie und engster Freunde, friedlich entschlafen nach schwerer Krebskrankheit. In ihm geht der letzte der "Schestidesjatniki" dahin, der "Sechziger". So nannten sie sich, so feierte Jewtuschenko sich und seine Gefährten in Gedichten, als "die Besten ihrer Generation", als "legendär", da fingen sie gerade erst an.

Die bitterlich kurzen Jahre des Tauwetters nach dem Tod Stalins hatten einen Künstlerjahrgang hervorgebracht, der seine Zeit im Namen trug und so ambivalent war wie die ganze Ära. Stalins Nachfolger Chruschtschow hatte mit dem Erbe des Tyrannen gebrochen, aber das System blieb intakt, und vor allem: misstrauisch. Die Menschen atmeten auf, aber nur wenige wagten die offene Rebellion. Diejenigen, die es taten oder aus anderen Gründen in Ungnade fielen, auch und gerade die Dichter, zahlten dafür einen hohen Preis. Boris Pasternak wurde gezwungen, den Literaturnobelpreis für "Doktor Schiwago" abzulehnen und starb verbittert und verhöhnt. Alexander Solschenizyn durfte sein Schlüsselwerk "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" zwar irgendwann veröffentlichen, aber bald darauf wurde auch er drangsaliert und schließlich ausgewiesen. Niemand nahm das Dichterwort ernster als der Kreml. Niemand las aufmerksamer als der Zensor. In Russland sei ein Dichter mehr als ein Dichter, hatte Jewtuschenko gesagt, und es klang stets hochzufrieden.

Er schrieb blumige Huldigungen an Stalin, aber später auch eine Warnung vor Stalins Erben

Denn er, der einstige Fußballspieler, der den Sport für die Dichtkunst aufgegeben hatte, manövrierte geschickter als der eisig kompromisslose Solschenizyn oder der skrupulöse Pasternak. Jewtuschenko kannte zwar einen vagen humanistischen Idealismus, war aber vor allem Realist. In "Stalins Erben", einem seiner bekanntesten Gedichte, warnte er 1962 vor der Wiederkehr des Diktators. Weniger verbreitet sind hingegen jene neun Jahre älteren Zeilen, in denen sich der gerade 20-jährige Jewtuschenko in naturnahe Huldigungslyrik verstieg: "Ich weiß, die Gedanken unseres Volkes sind dem Führer unendlich nah. Ich weiß: Hier blühen Blumen, die Gärten füllen sich mit Licht. Denn daran denke ich und denken wir, also denkt auch Stalin daran." Bei Stalins Begräbnis gehörte er zur Menge der Trauernden und wurde bei einer Panik fast zertrampelt.

Jewtuschenko beteiligte sich nicht an den Kampagnen gegen Pasternak, er verurteilte den sowjetischen Einmarsch in Prag und als er Wladimir Dudinzews literarische Abrechnung mit dem Stalinismus "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein" lobte, wurde er aus dem Gorki-Literaturinstitut ausgeschlossen. Und natürlich schrieb er 1961 "Babij Jar", sein wichtigstes Gedicht über die Ermordung Zehntausender Juden durch die Nationalsozialisten in einer Schlucht bei Kiew. "Ich: jeder hier erschossene Greis, Ich: jedes hier erschossene Kind. /Die Internationale mag ertönen, wenn für immer begraben ist, der letzte Antisemit auf dieser Erde." Auch mit Dreyfus identifizierte sich der Dichter in diesen Zeilen, mit dem jüdischen Volk, schließlich mit Christus selbst. In einer anderen Zeit, einem anderen Land wäre sein Gedicht eine Selbstanmaßung gewesen. In der Sowjetunion aber, wo viele nicht wussten, dass die Opfer Juden waren, war es eine unerhörte Enthüllung.

Da flog er längst höher als die anderen "Sechziger", als Bella Achmadulina, seine erste Ehefrau, oder Andreij Wosnesenskij. Jewtuschenko sprach in Kuba mit Fidel Castro und in Chile mit dem sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Ihm widmete er nach dessen Ermordung ein Gedicht, "Die Taube von Santiago", das er viele Jahre später in Santiago vor einer riesigen Menge verlas: In Chile galt der Dichter ähnlich viel wie in Russland. Ein knallhartes Dissidentenleben war das nicht, und dass er sich in seinem Buch "Wolfspass" zum ewig Widerständigen stilisierte, verziehen ihm manche nicht. Andere aber fanden sich in den Widersprüchen zwischen Anpassung und Aufbegehren, Genussfreude und Pathos gerade wieder. Dass der literarische Gehalt seiner Werke hinter der oft tagesaktuellen Botschaft - gegen Rassismus, gegen den Vietnamkrieg - zurückblieb, verziehen ihm die meisten.

Russlands Premier erklärte, Jewtuschenko habe den Schlüssel zur Seele der Menschen gefunden

Während der Perestroika ließ sich Jewtuschenko als Abgeordneter ins Parlament wählen, aber Anfang der Neunzigerjahre zog er nach Amerika, unterrichtete russische Lyrik an der Universität in Tulsa und hasste es, schlechte Noten zu verteilen.

Es ist überhaupt die Frage, ob er jemals jemandem wehtun wollte. Nicht die notorisch empfindliche russische Staatsmacht ist ihm heute gram. Premier Dmitrij Medwedjew erklärte in den sozialen Medien, Jewtuschenko habe den "Schlüssel zur Seele der Menschen" gefunden, Kremlsprecher Dmitrij Peskow erklärte, sein Erbe gehöre zur "russischen Kultur". Jewtuschenko, der auch Filme drehte, wird in der Künstlersiedlung Peredelkino bei Moskau neben Boris Pasternak beigesetzt. Eine große Konzertreihe zu seinen Ehren in Moskau im Sommer, darauf hatte er noch vor seinem Tod bestanden, solle auf keinen Fall abgesagt werden. Er wird, ganz sicher, die Hallen füllen.

© SZ vom 03.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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