Nachruf:Der Andersdenker

Lesezeit: 1 min

Erfolgreicher Außenseiter: Lothar Baumgarten. (Foto: VG Bildkunst, Bonn 2018/dpa)

Er sah in einer Landschaft mehr als nur ein Panorama: Lothar Baumgarten, der erste Ethnologe unter den Künstlern, ist gestorben.

Von Catrin Lorch

Er gilt als der erste Anthropologe unter den Künstlern - und die Kunstgeschichte wird noch lange mit Lothar Baumgartens Werk zu tun haben. Denn der Einfluss des am 2. Dezember in Berlin gestorbenen Künstlers ist heute noch kaum zu ermessen, während sich die auch von ihm angestoßene postkoloniale Debatte in der Kunst gerade erst entfaltet.

Schon die erste Ausstellung von Lothar Baumgarten im Jahr 1974 thematisierte eine Schiffspassage auf dem Amazonas, was in der auf Konzeptkunst ausgerichteten legendären Galerie von Konrad Fischer in Düsseldorf fast befremdlich gewirkt haben muss. Doch der im Jahr 1944 im brandenburgischen Rheinsberg geborene Künstler, der an der Akademie in Karlsruhe und später in Düsseldorf in der Klasse von Joseph Beuys studiert hatte, verließ bald auch Deutschland, um dreizehn Monate bei den Yanomami-Indios im Grenzland zwischen Venezuela und Brasilien zu leben - weil er den Abstand ermessen wollte zwischen Kulturen und Bildwelten, auch um seine eigene Perspektive zu verändern. Konsequent bezog er die Ansichten der anderen ein in sein Werk, das er formal aufsplitterte zwischen Film und Fotografie, Texten, Begriffen und Installation.

Dieser Ansatz ist nicht nur vom strukturalistischen Denken eines Roland Barthes geprägt, sondern auch von einem Verständnis der Welt, in der eine Landschaft nie als Panorama zu sehen ist, sondern als Raum, der von seinen Einwohnern, von Tieren und Pflanzen bestimmt ist. Eine Untersuchung wie der aus 200 Silbergelatine-Fotografien bestehende "Carbon"-Zyklus, der von der Erschließung des amerikanischen Kontinents durch die Eisenbahn handelt, konterkariert die bekannte Perspektive der Siedler mit der der Ureinwohner. Und respektiert in seiner Erzählung die chinesischen Wanderarbeiter, die zu Tausenden am Bau beteiligt waren. In Münster durften Lothar Baumgartens "Irrlichter" nach dem Ende der Skulptur Projekte im Jahr 1987 an einem Kirchturm hängen bleiben: Die drei Glühbirnen erinnern an christliche Reformatoren, deren Anführer im Jahr 1535 hingerichtet worden waren.

Obwohl es den Außenseiter Lothar Baumgarten nie ins Zentrum der Szene drängte, wurde er viermal zur Documenta eingeladen und im Jahr 1984 auf der Biennale in Venedig mit einem Goldenen Löwen für die Gestaltung des Deutschen Pavillons ausgezeichnet. Seit den Neunzigerjahren pendelte er zwischen New York und Berlin, wo er zwischen 1994 und 2006 als Professor an der Universität der Künste lehrte.

© SZ vom 08.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: