Nachruf:Das Gesetz der Straße

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Mary Ellen Mark interessierte sich für Obdachlose und Drogendealer ebenso wie für Filmstars. Am Montag ist die große amerikanische Fotografin in New York gestorben.

Von Catrin Lorch

Fotografen kehren selten an den Tatort zurück. Dass Mary Ellen Mark noch kurz vor ihrem Tod am vergangenen Montag in New Orleans gearbeitet hatte, zehn Jahre nach den Zerstörungen durch den Hurrikan Katrina, ist ungewöhnlich. Doch anders als die meisten Kollegen hielt sie Kontakt zu den Menschen, die sie einmal fotografiert hatte, manchmal über Jahrzehnte. Auch ihr letztes Buch - das achtzehnte - sollte von so einer über viele Jahre währenden Beziehung handeln: "Tiny: Streetwise Revisited" war eine Wiederbegegnung mit einem Mädchen aus ihrem Buch "Streetwise", in dem die Fotografin in den Achtzigerjahren das Leben obdachloser Jugendlicher in Seattle dokumentierte.

Mary Ellen Mark, die am 20.März 1940 in Philadelphia geborene Tochter eines Architekten, hatte die Kamera als ihr künstlerisches Instrument entdeckt, nachdem sie Malerei und Kunstgeschichte studiert hatte. Sie habe gespürt, dass ausgerechnet die Fotolinse es ihr gestatte, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten - während der Kamera-Apparat ihr gestatte, "von der rauen Wirklichkeit abgeschirmt" zu bleiben. Nachdem sie, die Dorothea Lange und Robert Frank verehrte, sich noch zwei Jahre für Fotojournalismus in Philadelphia eingeschrieben hatte, zog sie nach New York.

Folgenreich wurde ein Auftrag des Magazins Look, das sie nach Rom schickte, um Federico Fellini während der Aufnahmen am Set von "Satyricon" zu fotografieren. Danach konnte sie sich in Hollywood als Setfotografin durchsetzen. Sie begleitete die Aufnahmen von "Apocalypse Now" und war auch bei den Dreharbeiten von "Einer flog übers Kuckucksnest" dabei: Ein Schlüsselerlebnis für Mary Ellen Mark, die sich nun nicht nur intensiv mit der Psychiatrie beschäftigte, sondern auch für sieben Wochen in die geschlossene Frauenabteilung einer Klinik in Oregon einzog. Tatsächlich öffneten sich viele der Patientinnen der Fotografin. Ihre Serie ist keine Freak Show, keine Abfolge horribler Schicksale, sondern aufmerksam, nah und unbestechlich. Die Bilder dieser durchgekachelten, stillgestellten Welt stellte Mark erstmals 1978 aus, das Buch "Ward 81" gilt als Klassiker.

Mary Ellen Mark hat für Life, Time, Rolling Stone und Vanity Fair an den Rändern der Gesellschaft gearbeitet. Sie dokumentierte - fast ausschließlich in Schwarz-Weiß - das Leben und die Arbeit von Prostituierten in Bombay, von Mutter Teresa in Kalkutta, sie fotografierte Hehler und Drogenhändler. Am berühmtesten allerdings wurde sie mit Aufnahmen, die in den USA entstanden. Den Lesern des Magazins Life zeigte sie an Beispielen wie der Familie von Dean und Linda Damm, wie Armut aussieht, 50 Jahre nachdem Walker Evans die große Depression dokumentiert hatte.

Die amerikanische Fotografin Mary Ellen Mark (1940-2015). (Foto: Katharina Hesse/laif)

Tagsüber irrten sie über die Highways, abends ließen sie sich von Prostituierten durchfüttern

Für diese Reportage begleitete Mary Ellen Mark eine Woche lang mit einer Autorin Dean, Linda, Crissy und Jesse Damm, die ohne Geld, ohne Aussicht auf Arbeit oder die Hilfe von Freunden oder der Familie nach Kalifornien flüchteten - einem der wenigen Staaten, die in den USA in Not geratene Familien finanziell unterstützten.

Das Familienleben spielte sich zwischen Tankstellen und Motels ab. Denn ohne Dach über dem Kopf - wenn man das ihres Autos nicht mitzählen will - war die Familie Damm auf der Suche nach Hilfsarbeiterjobs, Essensgutscheinen oder kleinen Hehlereien dazu verurteilt, täglich stundenlang über Highways zu irren und sich abends in Obdachlosenheimen oder billigen Absteigen von Prostituierten durchfüttern zu lassen. Das Cover der Life-Ausgabe aus dem Jahr 1987, in der diese Reportage erstmals gedruckt wurde, zeigte übrigens zufällig eine Porträt-Aufnahme von Meryl Streep, ebenfalls von Mary Ellen Mark fotografiert. Denn die hatte in den Neunzigerjahren angefangen, auch Prominente in ihr Studio einzuladen.

Für ihre Reportagen, Projekte, Ausstellungen und Bücher hat Mary Ellen Mark, die erst im vergangenen Jahr die renommierte Auszeichnung für ihr Lebenswerk des George Eastman House erhielt, wohl alle bedeutenden Preise erhalten. Darunter auch so obskure Würdigungen wie die für die "einflussreichste weibliche Fotografin aller Zeiten". Sie selbst machte sich wenig Illusionen über den Einfluss ihrer Bilder auf die Gesellschaft. Bitter konstatierte sie gegen Ende ihres Lebens, dass Magazine "heute wohl keine Bilder mehr wollen, die schwer anzuschauen" sind.

© SZ vom 28.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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