Nach dem Skandal an der Mailänder Scala:"Ich wollte auf der Stelle sterben"

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Weil er ausgebuht wurde, flüchtete Roberto Alagna von der Bühne. Dafür gab es Applaus und Kritik. Jetzt zweifelt der Startenor an der Opernwelt.

Marten Rolff

Mehr als 20 Jahre war Verdis Aida an der Mailänder Scala nicht gespielt worden. Nun spricht man in der ganzen Welt darüber. Allerdings nicht wegen der protzigen Inszenierung von Italiens Regie-Nestor Franco Zeffirelli, sondern weil Startenor Roberto Alagna zu Beginn der zweiten Aufführung am Sonntag von der Bühne floh. Die Buh-Rufe hatten ihm zu sehr zugesetzt.

"Das Orchester hat weitergespielt, als wäre nichts gewesen." Roberto Alagna bei einer Pressekonferenz in Mailand. (Foto: Foto: Reuters)

SZ: Wie geht es Ihnen, Signor Alagna?

Alagna: Ich habe vier Nächte lang nicht geschlafen. Vier Nächte, das ist mir noch nie passiert! Ich sehe aus wie ein Leichentuch und bin todmüde. Aber trotzdem geht es mir jetzt etwas besser, weil ich beginne zu verstehen, dass ich im Recht bin.

SZ: Das müssen Sie genauer erklären.

Alagna: Je länger ich über den Sonntag nachdenke, desto mehr glaube ich, die Kritik an der Aufführung war vorbereitet.

SZ: Eine Art Komplott? Geht diese Theorie nicht doch ein wenig zu weit?

Alagna: Ich weiß nicht, aber ich glaube nicht, dass die Kritik gegen mich gerichtet war. Ich fühle mich eher benutzt. Viele Dinge, die hier passiert sind, kann ich mir nur schwer erklären. Oder sagen Sie mir, warum man einen Tenor ausbuht, der noch gar nicht angefangen hat zu singen.

SZ: Vielleicht ist es ja am einfachsten, wenn Sie noch einmal erzählen, wie das war mit Ihrem Abgang von der Bühne.

Alagna: Alles an dem Abend war seltsam. Ich bin - wie immer - zwei Stunden vor Vorstellungsbeginn in der Oper gewesen. Dort warteten drei Männer vor dem Künstlereingang auf mich, die mir mit einer Art Karatezeichen bedeuteten: Wir hacken dich in Stücke. Heute wirst du Probleme bekommen. Ich war etwas verstört, habe mich aber damit nicht aufgehalten. Als nächstes traf ich dann auf den zweiten Ersatztenor, der sich schon warmsang.

SZ: Und? Ist das ungewöhnlich?

Alagna: Ich bitte Sie, doch nicht in meiner Garderobe! Zwei Stunden vor der Aufführung! Absolut ungewöhnlich! Er behauptete, dass der eigentliche Ersatztenor - Walter Fraccaro - unterwegs sei, aber im Stau stecke. Ich habe mich angezogen, geschminkt und bin zum Aufwärmen hinter die Bühne gegangen. Sonst kommen in dieser Phase viele Kollegen, um mir Glück zu wünschen. Nun ignorierte mich jeder. Als wäre ich ein Aussätziger.

SZ: In einem Interview hatten Sie die eher mäßigen Premieren-Kritiken...

Alagna: Die Kritiken waren schlecht!

SZ: ...damit kommentiert, dass die Scala Sie überhaupt nicht verdiene...

Alagna: ... aber auf der Bühne gab es den ersten Buhruf, bevor ich überhaupt angefangen hatte. Im Publikum war es daher natürlich unruhig. Nach Ende der Arie "Celeste Aida" kam erst ein "Bravo", gefolgt von Buhrufen. Ich fühlte mich, als müsste ich auf der Stelle sterben.

SZ: Sie waren natürlich verletzt.

Alagna: Jeder Tenor weiß, dass er ausgebuht werden kann, aber wenn es dann tatsächlich passiert, ist es schwer, sich zu kontrollieren. Meine Füße sackten mir weg. Ich konnte nicht atmen. Wenn Sie da weitersingen, riskieren Sie Ihre Stimme. Das Verlassen der Bühne war Selbstschutz, ich musste erst einmal Luft holen

SZ: Und dann gab es Tumult.

Alagna: Aber nein! Das Orchester hat weitergespielt, als wäre nichts gewesen. Ich hatte gar keine Chance, zurück nach draußen zu gehen. Der zweite Ersatztenor hat sich ja förmlich auf die Bühne geschmissen! Als Placido (Domingo, d. Red.) mal ein Problem auf der Scala-Bühne hatte, hat man eine Stunde auf seine Besserung gewartet. Als Luciano (Pavarotti, d. Red.) am Teatro San Carlo aussetzen musste, hat niemand sich beschwert. Aber um mich hat sich Sonntag kein Mensch gekümmert, keiner hat eine Frage gestellt. Ich hätte mich erschießen können, und niemand hätte es bemerkt! Ich war später allein mit meinem Arzt in der Garderobe, mein Blutzucker war völlig im Keller.

SZ: So war an Singen nicht zu denken.

Alagna: Der Künstler kann nur singen, wenn er glücklich ist!

SZ: Aber was hat Priorität bei einer solchen Aufführung: die Eitelkeit des Stars oder die - möglicherweise auch übersteigerte - Erwartung eines Publikums, das bis zu 2000 Euro für eine Karte zahlt?

Alagna: Ich habe immer gesagt: wenn ich schlecht singe, bestraft mich! Aber ich habe nicht schlecht gesungen. Und das Publikum war gut und meiner Meinung nach zufrieden. Es ging hier um Vorverurteilung und ein paar Störer. Wie nennen Sie Leute, die nur kommen, um Ärger zu machen? Im Stadion heißen die Hooligans.

SZ: Darüber, ob Sie nun weiter den Radames singen werden, gab es zuletzt widersprüchliche Gerüchte.

Alagna: Ich habe mich am Montag mit dem Intendanten Stephane Lissner getroffen. Ich wollte wieder singen. Er sagte: "Roberto, ich umarme dich, aber ich kann nichts mehr für dich tun." Nun werde ich nicht singen. Vielleicht nie mehr an der Scala, auch wenn das übertrieben wäre.

SZ: Franco Zeffirelli tobt und betreibt derzeit in Interviews Ihre Hinrichtung.

Alagna: Zeffirelli tobt immer vor Journalisten. Er hält alle für Dummköpfe außer sich selbst. Derzeit weigert er sich, mit mir zu sprechen, am Tag zuvor weinte er noch vor Glück über unsere in Rom geplante Inszenierung von La Traviata.

SZ: Ihr Regisseur sagte auch, dass es eigentlich auf der Welt derzeit keine dramatischen Tenöre, also auch keine Idealbesetzung für den Radames gebe. Sie seien nervös gewesen, weil der Radames nicht Ihr Repertoire sei. Hat Zeffirelli die Scala-Saison mit einer Notbesetzung eröffnet?

Alagna: Ich habe den Radames ja auch mit Erfolg in Kopenhagen gesungen. Ich will Ihnen vorlesen, was Zeffirelli mir nach der Premiere schrieb: "Für meinen lieben Roberto. Mit Herz, Seele und unendlicher Dankbarkeit und Bewunderung. In unendlicher Liebe, Dein Franco." Sind das Zeilen an die Notbesetzung?

SZ: Sicher nicht. Was wird der Vorfall vom Sonntag für Ihre Karriere bedeuten?

Alagna: Das lässt sich jetzt noch nicht sagen. Vielleicht hat mich das beschädigt. Aber es gab auch schon viele Anrufe anderer Opernhäuser, die sagten: "Wenn Du jetzt frei bist, sing doch bei uns" - Valencia, Covent Garden. Auch Placido Domingo will, dass ich nach Los Angeles komme.

SZ: Was werden Sie jetzt tun?

Alagna: Mein Anwalt wird die Scala verklagen. Es ist Zeit, darüber zu sprechen, wie schlecht man Künstler in unserem Geschäft behandelt. Ich nehme noch eine Platte auf., dann reise ich nach Frankreich. Ich brauche dringend Erholung.

© SZ vom 14.12.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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