Mythos 1968:Herr Tur Tur und die Revolution

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Mythos 1968: Es wäre Zeit, ihn zu beerdigen. Stattdessen wird er immer größer. Das Jahr 1968, das Kai Diekmann, Johano Strasser, Eva Herman - und viele andere - meinen, ist ein phantastischer Leuchtturm.

Thomas Steinfeld

Das Jahr 1968, behauptet Kai Diekmann, der Chefredakteur der Bild-Zeitung, in seinem gerade erschienenen Buch "Der große Selbstbetrug", beherrsche noch heute das Leben in Deutschland bis in dessen letzte Fasern: "Staatsgläubigkeit, kryptosozialistische Versorgungssysteme, Selbsthass, Identitätsverlust" - dies alles habe damals eine revoltierende Jugend in die Welt getragen, die allzu fest auf das Gute im Menschen gesetzt und deshalb nur Schlechtes vollbracht habe.

Der Studentenführer Rudi Dutschke (Mitte) marschiert neben dem Lyriker und Schriftsteller Erich Fried (l) 1968 in Berlin an der Spitze eines Demonstrationszuges gegen den Vietnamkrieg. (Foto: Foto: dpa)

Ähnlich fest glaubt auch Eva Herman an dieses Jahr: Es habe, in Gestalt des daraus hervorgegangenen Feminismus, die deutsche Mutter und ihre Familie ruiniert - eine starke Behauptung, wenn man bedenkt, dass die deutsche Hitparade des Jahres 1968 von einem kleinen Niederländer namens Heintje beherrscht wurde, der ein Lied für seine "Mama" schmetterte.

Je länger das Jahr 1968 zurückliegt, desto mehr verwandelt es sich in einen Scheinriesen. Dieser Riese ist eine Erfindung von Michael Ende und tritt in seinem Kinderbuch "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer" (1960) auf. Herr Tur Tur, so heißt der Riese, zeichnet sich dadurch aus, dass er umso größer und furchteinflößender wirkt, je weiter man sich von ihm entfernt. Weshalb ihn die beiden Helden zum Leuchtturm der Insel Lummerland machen.

Zu einem solchen Leuchtturm ist das Jahr 1968 in den vergangenen Jahren geworden - bei seinen nachtragenden Gegnern, den Sachwaltern des nationalen "Wir", und bei seinen vereinnahmenden Anhängern, den imaginären Helden jenes Aufstands. Johano Strasser und Kai Diekmann, Antje Vollmer und Eva Herman scheinen, politisch betrachtet, einander entgegensetzte Gestalten zu sein - was sie aber eint, ist die Überzeugung, die Revolte der späten sechziger Jahre habe Deutschland auf revolutionäre Weise verändert.

Diese Überzeugung ist anfechtbar. Denn was auch immer die Themen waren, mit denen sich die revoltierenden Studenten beschäftigten - sie waren vorher dagewesen, zum Teil lange vorher, und sie waren im Lauf der Jahre zu großen Debatten herangewachsen. Gewiss, die deutschen Universitäten stellten ein Überbleibsel der Feudalgesellschaft inmitten eines demokratischen Staates dar. Doch ihre Demokratisierung, ihre Öffnung zur Gesellschaft war schon eingeleitet.

Vollzugsbeamter der Modernisierung

Georg Pichts aufsehenerregende Studie zur "deutschen Bildungskatastrophe" war 1964 erschienen. Die Familie und insbesondere die Aufgabe der Frau darin waren längst zuvor zu zweifelhaften Angelegenheiten geworden: Simone de Beauvoir hatte "Das andere Geschlecht" im Jahr 1949 veröffentlicht, Betty Friedans "Der Weiblichkeitswahn" ist von 1963, Max Horkheimers Essay "Autorität und Familie" stammt gar aus dem Jahr 1936. Und die Kampagne gegen den Springer-Verlag? Es war, ausgerechnet, die Zeitschrift Capital gewesen, die 1964 zuerst die Frage aufgeworfen hatte, ob sich in Gestalt der Bild-Zeitung und um sie herum nicht ein Pressemonopol gebildet habe.

Viel eher, als dass die Studentenrevolte tatsächlich in die "gesellschaftlichen Verhältnisse" eingriff, verstärkte und beschleunigte sie Veränderungen, die Jahre zuvor begonnen hatten, um sich viel später zu vollenden. Was das bedeutet, lässt sich daran erkennen, dass jede vermeintliche Errungenschaft der "Achtundsechziger" eine andere, gar nicht revolutionäre, sondern äußerst "systemkonforme" Seite besitzt: Die Demokratisierung der Universität diente eben nicht nur der intellektuellen Emanzipation bildungsferner Schichten - falls sie dies überhaupt tat -, sondern lieferte der deutschen Wirtschaft auch die gebildeten Angestellten, die sie in den sechziger Jahren noch dringend gebraucht hatte.

Die Frauen emanzipierten sich nicht nur um ihrer selbst willen, sondern vergrößerten auch die Ressourcen auf dem Arbeitsmarkt - und so verschärfte sich die Konkurrenz, mit der Folge, dass heute die wenigsten Familien von nur einem Einkommen leben können. Selbst der Widerstand gegen die Bild-Zeitung verflüchtigte sich irgendwann, nachdem längst offensichtlich war, dass die meisten deutschen Zeitungen ein wenig so geworden waren, wie zuvor die Bild-Zeitung allein gewesen war.

Die Studentenrevolte fand zuverlässig in den Bereichen des gesellschaftlichen und politischen Lebens statt, in denen der Fortschritt - und das heißt hier: die Liberalisierung des Arbeitslebens - ohnehin schon seine stärksten Bataillone aufgestellt hatte. In Wirklichkeit ist Herr Tur Tur, der große Revoluzzer, ein Vollzugsbeamter der Modernisierung.

Das heute auch in manchen besseren Berufen mögliche Leben ohne Krawatte, die Bereitschaft zum "Du", ein freierer Umgang mit der Sexualität - das alles wäre gewiss auch ohne Revolte geschehen. Eine erfolgreiche Jugendbewegung hatte es, um die Jahrhundertwende und im Zeichen der Lebensreform, auch schon früher gegeben, und wer immer in den Archiven von 1968 wühlt, wird Bilder von Begegnungen zwischen deutschen Studenten und amerikanischer Populärkultur finden, die heute aussehen, als wären Außerirdische in die Jahrestagung eines Buchhalterverbands eingedrungen.

Am Ende war die Liberalisierung, die von einer gelebten Kultur ausging, von viel größerer Wirkung als alle theoretischen Anstrengungen jener Zeit zusammengenommen - weil die Gesellschaft reif für ihre Hedonisierung war.

Schon lange regt sich keiner mehr auf

Warum fand die Revolte dann aber statt? Woher der Eifer, die Wut, der Wille zu Aufstand und Gewalt, der ja keineswegs nur einige Sektierer außerhalb des Erwerbslebens ergriff, sondern in weite Bereiche des gebildeten Mittelstands vordrang? Woher die Bereitschaft, die ideologischen Auseinandersetzungen der zwanziger Jahre noch einmal zu kämpfen? Schwer sich vorzustellen, dass dies geschehen wäre, ohne dass die Bundesrepublik zuvor als realisiertes Ideal eines Staates, als demokratisches Modell gegolten hätte.

Nie dürfte es einen Staat gegeben haben, dessen Entstehung und überraschend schnelles Heranwachsen von solchen Hoffnungen begleitet gewesen waren wie die junge Bundesrepublik. Aber je älter sie wurde, desto gewöhnlicher wurde sie auch, angefangen von der Wiederbewaffnung im Jahr 1956 über den Spiegel-Skandal Anfang der Sechziger bis hin zu den Notstandsgesetzen, die im Mai 1968 verabschiedet wurden und der Revolte einen ihrer wichtigsten Anlässe lieferten - diese Gesetze gelten noch immer, den demonstrierenden Studenten zum Trotz, und es regt sich schon lange keiner mehr darüber auf.

Dass sich der Eifer der Revolte vor allem aus einem enttäuschten Idealismus speiste, ist an vielem zu bemerken: an der Entschlossenheit zum Beispiel, mit der die nationalsozialistischen Vergangenheiten von Hans Globke, Kurt Georg Kiesinger und vielen anderen hohen Funktionären der Bundesrepublik entlarvt und ausgestellt wurden, am Misstrauen den eigenen Eltern gegenüber, zumindest Mitläufer des Nationalsozialismus gewesen zu sein, am systematischen Anprangern gesellschaftlicher Ausgrenzung, am Fanatismus der Gleichheit, selbst an der stets gegenwärtigen Bereitschaft zur Provokation - denn wenn der so gereizte Staat reagierte, lag seine Bosheit ja umso deutlicher vor aller Augen.

Das Bedürfnis nach einem reinen, guten, unbefleckten Staat liegt dem zugrunde. Und wie sehr dieses Bedürfnis enttäuscht wurde, lässt sich daran ermessen, welche Karriere das Wort "der Staat" in dieser Zeit selbst machte: Vom "Staat" wurde geredet wie von einem einzelnen Menschen, und in der Feindschaft zu diesem Wesen lebte, unter umgekehrten Vorzeichen, der Glaube an den moralisch guten, heroischen Vater fort, der dieser Staat eigentlich hätte sein sollen. Und als der "Staat" dann zum "System" mutierte, da hatte die Revolte sich schon mit ihrem Scheitern abgefunden und offenbarte dies, indem sie den persönlichen Gegner in etwas Abstraktes, Mythisches, in eine gigantische Verschwörung verwandelte.

Denn der Kommunismus, in seiner utopischen Überhöhung vom dialektischen Materialismus zur universalen Heilslehre, steht keineswegs im Gegensatz zu den bürgerlichen Idealen. Nein, er ist theoretische Zuspitzung und äußerste Radikalisierung der allseits vertrauten Hoffnungen, und zwar nicht nur von Freiheit und Brüderlichkeit - sondern vor allem von Gleichheit. Der akademische Fundamentalismus der Studentrevolte ist eine Konsequenz der Anstrengung, die bürgerlichen Ideale bis an ihr systematisches Ende durchzudenken.

Der Rest ist Zynismus

Eben weil die Bundesrepublik die Hoffnungen auf soziale Gerechtigkeit offensichtlich nicht erfüllte, sondern ein Klassenstaat war und blieb, wurden die Ideale auf einen anderen, radikaleren Staat übertragen, der dann endlich und auf Erden Ernst machen sollte mit dem alten Glauben, alle Menschen seien Kinder Gottes. Und es ist immer noch erhebend, Karl Marx zu lesen, nicht nur seiner analytischen Klarheit wegen, sondern auch um der Aggressivität willen, mit der er auf soziale Verhältnisse reagiert - auch wenn vermutlich längst kein europäischer Kapitalist mehr ein solches Elend hinnehmen würde.

Aber es gab doch die Studentenrevolte nicht nur in Deutschland, sondern in allen westlichen Ländern, ja sogar, um vieles vermindert, in Prag, in Warschau und in Ost-Berlin? Ja, aber es ist kein Zufall, wenn diese Revolte mitsamt ihren Filiationen, von den K-Gruppen bis zum organisierten Spontaneismus und zum Tunix-Kongress von 1978, in Deutschland intensiver und ausdauernder betrieben wurde als irgendwo anders.

Der Staatsidealismus, die Hoffnung, nach dem Zweiten Weltkrieg beginne eine bessere Welt, gab es auch in den Vereinigten Staaten, in Frankreich und in Italien sowieso. In Amerika jedoch war der Aufstand schon nach zwei Jahren Vergangenheit, was daran liegt, dass die Enttäuschung kleiner ausfällt, wenn der Glaube schwächer ist. In Frankreich währte die Revolte kaum länger. Der Rest ist Zynismus.

Das Jahr 1968, das Kai Diekmann, Johano Strasser, Eva Herman - und viele andere - meinen, ist ein phantastischer Leuchtturm: Es ist eine Heroisierung ihrer selbst, ein Popanz, den sie sich aufbauen, damit die einen ihn mit Gebrüll niederknüppeln und die anderen ihn als Weißen Riesen - Markteinführung: 1966 - vor sich her tragen können. Die große Revolte ist zu einer Angelegenheit für Exorzisten und Angeber geworden, und das meistverkaufte Buch des Jahres 1968 hatte der Engländer Eric Malpass geschrieben. Sein deutscher Titel lautete: "Wenn süß das Mondlicht auf den Hügeln schläft."

© SZ vom 27.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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