Musikmesse "Popkomm" 2011:Allgemeine Krisenduldungsstarre

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Verpasste Chance: Auf der führenden deutschen Musikmesse "Popkomm" gab es dieses Jahr wieder viele Vorträge zur Krise der Branche. Doch einen Ausweg fand bei der "Berliner Krisenblues Week" keiner. Dabei geht es bei Popmusik längst um die Frage, wie statt der Quantität die Qualität gefördert werden kann.

Jan Kedves

Krise vorne, Krise hinten, Krise rundherum. Das Wort ist in den vergangenen zehn Jahren derart zum Inbegriff der Musikindustrie geworden, dass man sagen muss: Die Industrie hat sich inzwischen so an die Krise gewöhnt oder vielmehr daran, dass es bei dieser Krise eben keine Gewöhnung geben darf, dass dieses Nichtgewöhnen längst der ständigen Vergewisserung bedarf, sonst würde man die Krise möglicherweise tatsächlich vergessen.

Die Hörerschaft sehnt sich vermutlich nicht nach High-End-Boxen. 64kBit-Files und quäkende Handylautsprecher sind ein wahrscheinlicheres Szenario für die Zukunft der Musikindustrie. (Foto: dpa)

Jedenfalls haben es positive Meldungen ausgesprochen schwer, überhaupt noch durchzudringen - obwohl es sie immer wieder gibt, in diesem Jahr zum Beispiel: Hurra, die Zahl der Menschen in Deutschland, die für heruntergeladene Musik nicht zahlen wollen, ist weiter zurückgegangen. Und hurra, die stark wachsende Zahl derjenigen, die legale Digitalangebote nutzen - seien es Downloadshops wie iTunes oder die Millionen von Songs verfügbar haltenden Streamingwolken wie Simfy -, greift überproportional stark auf das Angebot derjenigen zu, die bislang am stärksten vom Absatz- und Lizenzrückgang betroffen waren: die Independent Labels. Jubel? War an den ersten beiden Tagen der diesjährigen Berlin Music Week trotzdem nicht zu vernehmen. Vielmehr bot sich ein einigermaßen trostloses Bild.

Bei den Veranstaltungen der all2gethernow-Konferenz im Rahmen der Music Week unternahm man zum Beispiel erst gar keine Versuche, an die ambitionierten Diskussionsrunden des vergangenen Jahres - "Nachhaltigkeit in der Massenkultur", "Die Zukunft des Musikjournalismus" etc. - anzuknüpfen.

Umgezogen von der großen Kulturbrauerei ins kleinere HBC und komprimiert auf einen einzigen Tag, gab es am Mittwoch nur noch Profi-Coachings nach dem Motto: Wir machen unseren Nachwuchs fit für den brutalen Markt. "Wie geht Promo im Netz?", "Wie lizenziere ich meine Musik für Film, Werbung und Games?", "Wie komme ich in die Künstlersozialkasse?" - wichtige Fragestellungen für ambitionierte Newcomer, sicherlich. Was aber auf dem Stundenplan völlig fehlte, war ein Arbeitskreis zum Thema "Wie erkenne ich rechtzeitig, dass mein bislang unveröffentlichter 08/15-Retrorock/-Electropop/-Minimaltechno niemanden interessieren wird, außer meinen in Sachen Selbstausbeutung sehr begabten Minilabelgründer?"

Es ist nicht zu leugnen, dass längst viel zuviel Musik veröffentlicht wird und die nicht enden wollenden Affirmationen ("Ihr könnt alles schaffen, ihr müsst nur wollen") akustisches und menschliches Elend produzieren. Auf jede Lady Gaga kommen tausende Unbekannte, deren Soundfiles nach ein paar Klicks im Netz nur noch Strom kosten, die Musiker gehen aber völlig selbstverständlich weiterhin davon aus, die Welt habe allein auf sie gewartet.

80 Prozent der Abrufe auf zwei Prozent der Musikdateien

Eine entsprechend ernüchternde Zahl hierzu wurde am Donnerstag auf der Popkomm-Konferenz der Music Week im Flughafen Tempelhof genannt. Richard Wernicke vom Streaming-Dienst Simfy erklärte auf dem Panel "Die neue Dynamik für Independents im Digitalmarkt", dass 80 Prozent der Abrufe seines Angebots auf nur zwei Prozent der zur Verfügung stehenden Musikdateien zugriffen. Es hätte ein dringender Hinweis darauf sein können, einmal darüber nachzudenken, wie statt der Quantität die Qualität der Musik gefördert werden und wie sich diese Qualität vermitteln lassen könnte.

Tatsächlich bestätigte auf demselben Panel Oke Göttlich vom Hamburger MP3-Vertrieb Finetunes, dass die inhaltliche Selektion und die redaktionelle Bewertung der angebotenen Musik gestärkt werden müsste. Er forderte deshalb mehr "kuratierte Streams". Hier hätte es interessant und produktiv weitergehen können, hier hätte man zwar diskutieren müssen, warum nun auch im Online-Musikgeschäft das omnipräsente Unwort des Kurators reüssieren muss, man hätte aber auch grundsätzlich nachfragen können: Soll Popmusik, immerhin ehemals Motor der Popkultur, heute überhaupt noch irgendetwas aussagen und bedeuten, oder reicht es schon, wenn in Zukunft möglichst viele Soundschleifen rund um die Uhr auf möglichst vielen mobilen Endgeräten ablaufen? Und wenn die jeweiligen Soundprovider dafür immerhin ein paar Cent abbekommen, sind schon alle zufrieden?

Stattdessen fiel den offenbar auch längst in Krisenduldungsstarre befindlichen Organisatoren der Popkomm nichts Besseres ein, als ihre Keynotes mit Vertretern sehr drolliger, also etwas weltfremder Geschäftsmodelle zu besetzen. So durfte ein audiophiler Berliner Geschäftsmann seine Idee vorstellen, hochwertige Soundfiles in 5.1-Studio-Masterqualität zu verkaufen. Schöne Idee, allerdings ist - falls sich die Popkultur wie in den vergangenen zehn Jahren weiter in Retrozyklen ergehen wird (wovon stark auszugehen ist) - eher zu erwarten, dass die Hörerschaft der Zukunft statt nach High-End-Boxen eine dringende Sehnsucht nach 64kBit-Files und quäkenden Handylautsprechern entwickeln wird.

Und am Donnerstag trat noch ein Mann aus Zypern ans Rednerpult, der mit seinem Unternehmen www.music.us ernsthaft den Standpunkt vertrat, im Internet ließe sich mehr Vertrauen zwischen Musikanbietern und Musikkonsumenten dadurch schaffen, dass Musiker die Adressen ihrer Web-Repräsentanzen nicht länger auf ".com" oder ".de" enden lassen, sondern auf die neue Top-Level-Domain ".music" umsatteln. Bingo! So lässt sich eine Berlin Krisenblues Week vollreden, aus der Malaise findet man so nicht.

© SZ vom 10.09.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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