Musiklegende Holger Czukay:Die anarchische Methode

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Mit seiner Gruppe Can nahm Holger Czukay das Sampling vorweg und beeinflusste Davie Bowie und Brian Eno. Ein Gespräch zu seinem 70. Geburtstag über Lärm, lebende Suchmaschinen und virtuelle Bands.

Hans Hoff

Zwischen der Eifel und Köln liegt Weilerswist. Mitten durch den unscheinbaren Ort führt eine hässliche Straße. Nichts deutet darauf hin, dass hier Musikgeschichte geschrieben wurde. In einem Hinterhof liegt das Studio von Can, das Holger Czukay heute allein nutzt. Ein freundlicher älterer Herr öffnet die Tür, lächelt und führt in einen riesigen Raum, der früher mal ein Kino war. Die hohen Wände sind mit Tüchern abgehängt und stimmungsvoll karg beleuchtet. In der Mitte des Raums lehnt ein Kontrabass. Es ist sehr still. "Lassen Sie uns nach hinten gehen", sagt Czukay. Hinten, das ist dort, wo ein paar Sessel neben allerlei elektrischen Geräten stehen.

Holgzer Czukay: "Suche! - Das ist ein Imperativ. Ich bin eine lebende Suchmaschine." (Foto: Foto: oh)

SZ: Herr Czukay, Sie haben seit der legendären Band Can immer viel mit Geräuschen gearbeitet. Welches Geräusch haben Sie heute bewusst wahrgenommen?

Holger Czukay: Ich habe vorhin die überflüssigen Beine von diesen Sesseln abgeschlagen. Die Geräusche sind mir noch im Ohr.

SZ: Sie nehmen so was bewusst wahr?

Czukay: Ja, ob das beim Bearbeiten der Sessel oder beim Kaffeekochen ist. Besonders nehme ich aber die Stille und die Ruhe wahr, wenn hier kein Mensch im Studio ist. Das fasziniert mich am meisten.

SZ: Was für ein Geräusch ergeben Stille und Ruhe?

Czukay: Das hört sich an, als sei nichts da, und doch ist etwas da. Und sei es nur das Blut in deinen Ohren. Und der Tinnitus natürlich. Der ist immer präsent.

SZ: Ein leichtes Fiepen?

Czukay: Das geht über das Leichte hinaus. Ich habe versucht herauszufinden, woher das kommt und weiß nun, dass das eine Blut-Kreislauf-Geschichte ist. Man kann das schön feststellen, wenn man kalt und warm duscht. Dann hört man, wie der Blutdruck steigt und wieder sinkt.

SZ: Der Preis, den man zahlt für 40 Jahre Rockmusiker-Dasein?

Czukay: Man kann davon ausgehen. Obwohl ich von allen in der Band der am wenigsten Betroffene bin.

SZ: Es gibt Musiker wie Pete Townshend von den Who, die fast nichts mehr hören.

Czukay: Es wundert mich nicht. Man kann aber auch damit leben. Auch Beethoven konnte damit leben.

SZ: Hat man es übertrieben mit der lauten Musik?

Czukay: Hat man. Wobei wir bei Can ja noch glimpflich davon gekommen sind, weil wir großen Wert auf die leisen Töne gelegt haben. Das belegen unsere Platten. Ich habe mich in den Pausen der Aufnahmen immer zu den Tonbändern geschlichen und die gerade entstehenden Geräusche aufgenommen, ohne dass die anderen etwas bemerkt haben.

SZ: Sie sind ein Geräuschsucher?

Czukay: Auch, aber ich bin eher jemand, der ein Geräusch auswertet.

SZ: Wie wertet man ein Geräusch aus?

Czukay: Ich kann ein Beispiel geben. Als ich hier mit unserem Drummer Jaki Liebezeit im Studio war, haben wir Kaffee getrunken und dann ist Jaki zu seinem Instrumentarium gegangen und hat wie zufällig an den Gongs und den Trommeln vorbeigestrichen. Ich bin zum Pult geschlichen und habe das aufgenommen, als Bild der Situation sozusagen. Die stärksten Stücke sind zusammengekommen, weil ich Töne fotografiert habe.

SZ: Sie haben viel mit Tonbändern experimentiert und geschnibbelt. Sie waren der Schneider bei Can?

Czukay: Es ging weniger um das Schnibbeln, es ging darum, die richtigen Stellen auf den Bändern zu finden. Can war am Anfang eine eher schlechte Band. Wir haben viele Fehler gemacht. Das war alles andere als perfekt. Aber ich habe im Laufe der Jahre festgestellt, dass manchmal ein Fehler, den ich gemacht habe, mehr wert war als der beste Gedanke, den ich hatte. Was anfangs ein Fehler war, hat am Schluss ein ganzes Stück gerettet - oder es erst zu dem werden lassen, was es dann war.

SZ: Klingt komisch.

Czukay: Der große Vorteil, den ich habe, ist ja, dass ich nichts so richtig spielen kann. Ich bin der universale Dilettant. Das war ja auch die Grundvorstellung von Can. Wir wollten als universale Dilettanten die Fachleute und alle Maestros schlagen.

SZ: Klingt angesichts der Bedeutung, die Can in der internationalen Musikszene immer noch genießt, wie eine Untertreibung.

Czukay: Das ist aber die Wahrheit. Es gibt doch nur zwei Wege. Entweder du nimmst das, was bisher die Musikkultur ausgemacht hat, und setzt noch einen drauf oder aber du vergisst alles und fängst ganz von vorne an - wir haben den zweiten Weg gewählt, weil wir gar nicht anders konnten. Wir mussten abspecken und alles vergessen, was wir wussten. Es hieß: Spiel mal einen Ton, lass den auf dich wirken und dann schauen wir mal, was dabei herauskommt. Dabei sind dann die stärksten Stücke entstanden.

SZ: Es ist aber, Herr Czukay, schwer zu glauben, dass das alles Dilettanten waren. Sie haben immerhin vorher bei Karlheinz Stockhausen studiert.

Czukay: Aber in dem Moment, wo ich ein Instrument in die Hand nahm, wusste ich nicht, wie ich da überleben sollte. Ich hatte schon Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre mit zwei anderen Musikern in der Gaststätte "Zur Fröhlichkeit" in Duisburg-Walsum gespielt. Ich bekam die Stunde fünf Mark und spielte natürlich Kontrabass. Warum? Weil da niemand darauf hört. Das war . . .

SZ: . . . unauffällig.

Czukay: Genau. Das war meine Art, mit der ich glaubte, überleben zu können. Ich habe dann damals schon mein erstes Tonband angeschafft und den anderen gesagt: Wir nehmen jetzt etwas auf und spielen dann dazu. Ich fand das eine geniale Idee, aus einer Dreimanngruppe eine Sechsmanngruppe zu machen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wann aus anarchischen Tönen Musik wird.

SZ: Wie fanden die anderen das?

Czukay: Erst mal aufregend, aber irgendwann merkten wir: In der Kneipe reichen auch drei Mann.

SZ: Was haben Sie da gespielt?

Czukay: Karnevalslieder und Schlager.

SZ: Klingt schräg.

Czukay: Das klingt nicht nur schräg, das war auch ein bisschen verrückt. Damals gab es in Duisburg-Ruhrort schon eine echte Beatszene. Da spielte ich mit meinen Jetliners, und irgendwann kam ein Mann und wollte mitspielen. Ich war froh, denn während der spielte, hatte ich ja frei und konnte mich um die Mädchen kümmern. Nach drei Stücken hat er sich dann überschwänglich bei mir bedankt, und ich erfuhr, dass er ein todkranker Mann war, in dessen Körper eigentlich nichts mehr funktionierte. Aber dieses Spielen hat ihm unglaublich viel bedeutet. Was mir völlig unwichtig war, erschien ihm wie der Himmel. Da habe ich aufgehört, Musik nach Qualität zu kategorisieren. Was ich Scheiße finde, kann jemand anderes gut finden. Deshalb ist es aber noch lange nicht weniger wert.

SZ: Und mit der Einstellung sind Sie dann zu Can gekommen?

Czukay: Das war die Voraussetzung, um bei Can anfangen zu können.

SZ: Ihnen war egal, was dabei herauskam?

Czukay: Es war uns nicht egal, aber zunächst einmal mussten wir das gut finden.

SZ: Der Band wurde eine anarchische Methodik nachgesagt.

Czukay: Ja, das war Anarchie. Es war nicht wie bei Jazzmusikern, wo alles trotz der Improvisation einem roten Faden folgt, es war viel freier, auch durch die Einbeziehung von Geräuschen. Die Gewissheit, dass ich eigentlich keine Fehler machen konnte, die hat mich überleben lassen.

SZ: Im Zweifel klingt es dann schlecht.

Czukay: Im Zweifel klingt es dann gut! Wenn Sie heute hören, wie ich aufnehme, sagen Sie möglicherweise: Das ist ja wie im Kindergarten. Ich höre manchmal gar nicht auf das, was ich vorher gespielt habe, sondern bewege mich völlig unabhängig von der Vorlage.

SZ: Wann entsteht denn da die Musik?

Czukay: Sie entsteht in jedem Augenblick, sowohl wenn ich spiele als auch wenn ich auswerte. Musik ist die Summe aller Entscheidungen. Die geben das Gesicht.

SZ: Wann wird aus einem Geräusch Musik?

Czukay: Wenn man ihm eine Form gibt. Man muss schon Architekt sein, weil man der Sache eine Gestalt geben muss.

SZ: Wann geben Sie der Sache eine Gestalt, vorher oder nachher?

Czukay: Immer nachher.

SZ: Immer als Dilettant reingehen.

Czukay: Genau das.

SZ: Da muss ich mir ja überhaupt keine Arbeit mehr machen. Da muss ich auch nicht mehr üben.

Czukay: Davon lebt die heutige Generation. Ich hab' mal auf einem Filmfestival mit Ennio Morricone gesprochen, und der hat sich darüber beklagt, wie austauschbar die Musik heutzutage ist. Ich habe dagegengehalten, dass man nicht mehr an seinem Instrument üben muss und trotzdem zu einem unglaublichen Ergebnis kommen kann. Es ist natürlich auch viel Schrott darunter. Der beruht dann aber nicht auf der Tatsache, dass diese Menschen nicht spielen können.

SZ: Was hören Sie denn da?

Czukay: Hören Sie sich mal DJs an. Die können kein Instrument spielen. Aber ich habe Sachen gehört, dass ich gedacht habe, ich spinne. Ich war vor kurzem auf so einer Underground-Party und hab' gedacht, mich tritt ein Pferd. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass Maschinen einen so lebendigen Rhythmus auf die Bühne bringen können. Das war eine unglaubliche Wucht. So etwas hatte ich vorher nur in den Anfangstagen von Can gespürt.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wie sich Can einen Sänger aus der Kurzwelle besorgte

SZ: Sie teilen also nicht den Kulturpessimismus, dass früher alles besser war.

Czukay: Nein, ich bin immer noch total neugierig.

SZ: War Karlheinz Stockhausen ein starker Einfluss für Can?

Czukay: Enorm. Wir haben ihn aber - im kreativen Sinne - umgebracht. Sonst hätten wir nicht anfangen können. Wir sagten: Alles, was Stockhausen gemacht hat, ist das, was wir nicht machen werden.

SZ: Was wollten Sie?

Czukay: Primitive Musik spielen.

SZ: Das hätte Stockhausen nicht erlaubt.

Czukay: Stockhausen hatte etwas gegen Wiederholungen. Für uns war das ein Hauptbestandteil. In der Wiederholung liegt die Faszination. Wenn du etwas hast, was sich wiederholen lässt und dich nicht langweilt, dann hast du einen Edelstein gefunden.

SZ: Can hat sich oft wiederholt.

Czukay: Wir konnten sehr lange an einem Stück spielen, aber wir haben zum Schluss immer gewusst, ob es das war oder nicht. Das ist manchmal dramatisch gewesen, wenn der Schlagzeuger den Gitarristen fertiggemacht hat und der wiederum wütend in die Saiten griff, um ihn aus seinem Rhythmus zu bringen.

SZ: Sie haben in der Musik gekämpft?

Czukay: Das war immer Kampf. Man kann auch mit sich alleine kämpfen. Beethoven hat mit sich gekämpft. Ich bin auch so einer.

SZ: Sind Sie immer noch so ein überzeugter Kurzwellenfan?

Czukay: Aber ja, die Kurzwelle ist ein Generator, sie erzeugt Töne wie ein Instrument.

SZ: Can hat sich mal einen Sänger aus der Kurzwelle geborgt.

Czukay: Wir hatten Mitte der 70er Jahre keinen Sänger, und da habe ich gesagt: "Lasst uns doch einen aus der Kurzwelle holen!" Ich habe dann dagesessen und die Kurzwellenstimmen mit einer Morsetaste an die Musik angepasst.

SZ: Sie könnten auch mit einem Mikrophon hier in Weilerswist auf die Kölner Straße gehen und sich dort Ihre Stimme holen.

Czukay: Das ist im Prinzip das Gleiche. Es ist eine ewige Suche. Czukay ist ja polnisch und bedeutet Suche. Deshalb habe ich den Namen wieder angenommen.

SZ: Sie heißen gar nicht Czukay??

Czukay: Ich heiße Schüring! Früher hieß ich Czukay, aber wegen der Nazis, die unbedingt nur Arier haben wollten, hat mein Großvater einen tollen Familienstammbaum entwickelt, um den Namen Czukay loszuwerden. Das haben die Nazis geglaubt.

SZ: Deshalb haben Sie überlebt?

Czukay: Wahrscheinlich. Aber ich will das nicht hoch hängen. Wir hatten einen anderen Namen. Und keine Probleme.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Holger Czukay Damon Albarn mit virtuellen Ideen inspirierte.

SZ: Wann sind Sie zu Czukay zurückgekehrt?

Czukay: Das war, als ich mit den Jetliners, dem Trio, in Duisburg unterwegs war, da hatten wir zwei polnische Sängerinnen und die sagten mir, dass der Name für Suche steht. Da merkte ich, dass der Name auf mich gewartet hatte.

SZ: Weil er zu Ihrem Tun passte?

Czukay: Er passt auch zu meinem Wesen. Suche! Das ist ein Imperativ. Ich bin eine lebende Suchmaschine.

SZ: Wo suchen Sie Ihre Töne heute?

Czukay: Ich suche keine Töne, ich suche Gestalten, denn Töne, die eine Gestalt haben, werden zur Musik. Da würde mir selbst Stockhausen nicht widersprechen.

SZ: Hat Stockhausen mal Can gehört?

Czukay: Hat er, aber das war nicht seine Schiene. Er hat sich aber sehr für die Band eingesetzt, als unser Sänger Damo Suzuki von der Polizei nach Japan abgeschoben werden sollte. Da hat er alles getan, damit Damo hier bleiben kann.

SZ: Wie sind Sie zu Stockhausen gekommen?

Czukay: Ich war schon überall durchgefallen, als ich zu ihm ans Konservatorium kam, und ich hatte nur eine Wahl: bei der Wahrheit zu bleiben. Ich sagte: "Herr Stockhausen, ich bin überall durchgefallen, ich habe noch nie eine Prüfung bestanden." Alles habe ich ihm erzählt, alles, was mir so zugestoßen ist. Danach guckte er mich an und sagte: "Sie nehm ich." So kam ich in den Meisterkurs, in einen der ersten Kurse für Neue Musik.

SZ: Die Welt hat viel mit ihm verloren.

Czukay: Sehr viel. Er war einer der Größten.

SZ: Holen Sie Ihre Geräusche heute auch aus dem Internet?

Czukay: Nein, aber das Internet ist für andere Dinge gut. Ich habe übers Internet eine Band zusammengestellt, bei der sich die Mitglieder persönlich nicht kennen - was ich sehr begrüße. Da haben mir dann 23 Leute zugespielt, und ich habe das dann zusammengefügt.

SZ: Wie finden Sie Ihre Mitmusiker?

Czukay: Ich habe ein Chat-System. Da gehe ich unter verschiedenen Namen rein. Ich war da schon Ray Charles, Elton John, Sophia Loren und Madonna. Ich wollte damit auf mein Projekt aufmerksam machen. Da hat dann Elton John um Hilfe gerufen, weil er von der Queen in der Westminster Abbey gefangen gehalten wird, der "Candle In the Wind" nicht gefallen hat. Es meldete sich Ray Charles, und den bat er, eine Briefbombe unter die Tür zu setzen, damit er freikommt. So habe ich eine Soap-Opera erfunden, die mir sehr viel Spaß gemacht hat, die auch zu wunderbaren Internet-Freundschaften geführt hat. Es meldete sich ein Texaner, der Ölplattformen kontrolliert, aber meinen Humor zu schätzen wusste. Der liefert inzwischen viel zu meinen Projekten.

SZ: Weiß der Mann, wer Sie wirklich sind?

Czukay: Ja klar.

SZ: Kannte er Sie denn? Kannte er Can?

Czukay: Natürlich. Das Internet ist höchst musikalisch, weil du auf Leute triffst, die mit dir musikalisch in Verbindung treten. Schön wäre es, wenn ich auf eine Bühne könnte, und die Menschen zu Hause würden von ihren Laptops live Geräusche zuliefern. Aber da fehlt mir noch die Software.

SZ: Eine virtuelle Band ist besser?

Czukay: Aber ja! Virtuelle Musiker lassen wenigstens keine halbvollen Kaffeetassen rumstehen. Das habe ich auch Damon Albarn gesagt, als der mich fragte, was er denn nach Blur mal Neues anstellen solle. Da habe ich aufgrund meiner Erfahrung gesagt: Gründe eine virtuelle Band!

SZ: Und er gründete daraufhin die Gorillaz?

Czukay: Das hat er bestätigt.

SZ: Sie haben immer noch richtig Einfluss.

Czukay: Solange ich lebe.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Can Filmmusik ohne Bilder komponierte.

SZ: Wie war das, als Can 1971 mit "Spoon", der Titelmusik zum TV-Krimi "Das Messer", in der Hitparade landete?

Czukay: Ich hatte ein Tonband, das hatte ich 1955 in Duisburg in der Mülltonne gefunden. Darauf habe ich "Spoon" aufgenommen. Jeder Toningenieur würde mich heute für wahnsinnig erklären. Das war uns egal. Wir brauchten einen Bandbus, den wir uns dann leisten konnten. "Spoon" war übrigens der erste Hit, bei dem eine Schlagzeugmaschine eingesetzt wurde.

SZ: War das bewusst subversiv gedacht?

Czukay: In dem Moment denkt man nicht ans Subversive. Uns ging es um die Aufgabe. Wir mussten Spannungsmusik zu einem mittelmäßigen Kriminalfilm hinkriegen.

SZ: Wie geht das? Man schaut einen Film und denkt sich dann die Musik aus?

Czukay: Den Film hat immer nur einer gesehen, bei uns der Irmin Schmidt. Der hat uns dann den Film erzählt. Darin ist auch einer der Gründe zu sehen, warum Can so gute Filmmusik gemacht hat. Wir mussten uns den Film nicht ansehen. Als ich mich mit Morricone getroffen habe, hat er mir erzählt, wie er mit Sergio Leone die besten Filmmusiken gemacht hat. Leone hat ihm den Film erzählt und gesagt: "Fang schon mal mit der Musik an! Wir drehen dann später." Das funktionierte genauso bei Can. Wir waren vollkommen unbeleckt vom Bild. Das war gut so, denn das Bild tötet ganz schnell.

SZ: Kann man mit einer guten Filmmusik einen schlechten Film adeln?

Czukay: Irmin Schmidt hat immer gesagt: "Wir müssen vorsichtig sein und die Musik nicht zu interessant machen, weil wir sonst den Film kaputtmachen." Darauf habe ich immer gesagt: "Los, lass uns den Film kaputtmachen." So haben wir es oft gemacht. Ich habe nach 30 Jahren mit dem Regisseur von "Mädchen mit Gewalt" gesprochen. Der hat "Soul Desert", eine unserer besten Filmmusiken, bekommen. Als ich dem von Irmins Rat und meiner Gegenbewegung erzählte, sagte er mir: "Du hast recht gehabt."

SZ: Die Musik war besser als der Film?

Czukay: Eindeutig. Außerdem hat ein Stück wie "Soul Desert" Bands wie die Einstürzenden Neubauten inspiriert.

SZ: Can hat die Neubauten ermöglicht?

Czukay: In gewisser Weise hat Can eine ganze Generation ermöglicht. Johnny Rotten hat ständig hier angerufen, weil er Sänger bei uns werden wollte.

SZ: Der Sänger der Sex Pistols hat hier in Weilerswist angerufen und gesagt "I wanna be your singer"?

Czukay: Ja. Der hatte verstanden, dass wir eine gute Band für ihn gewesen wären. Seine spätere Band Public Image hat ähnlich wie Can gearbeitet. Sie haben der Musik ihr Gesicht verliehen.

SZ: Stimmt es, dass Can nie aufgelöst wurde?

Czukay: Die Kerntruppe besteht nach wie vor. Uns sind nur die Sänger davongelaufen.

SZ: Can wurde 1968 gegründet. Damals gingen auch Led Zeppelin an den Start. Die haben gerade ein Comeback gefeiert.

Czukay: Bei Can würde sich das nicht auszahlen. Man hat uns sehr viel Geld geboten, damit wir noch einmal live auftreten. Das haben wir aber nie gemacht. Weil wir wissen, dass das nicht gutgehen kann.

SZ: Bei Led Zeppelin ist es gutgegangen.

Czukay: Bei uns würde es nicht klappen. Da ist die Gruppenkonsistenz zu divergent. Außerdem halte ich die Rückwärtsorientierung für Unsinn. Das Leben geht vorwärts.

SZ: Sie werden jetzt 70 Jahre alt. Haben Sie sich schon mal Gedanken über die Musik im Jenseits gemacht?

Czukay: Ich habe immer gehofft, dass es dann ganz ruhig sein wird. Ich war jetzt ein paar Tage allein im Studio, und das Gefühl allein zu sein und nichts zu hören, das ist mehr wert als alles, was man hört.

SZ: Stille als Belohnung?

Czukay: Belohnung für das, was man musikalisch verbrochen hat.

Holger Czukay war seit der Gründung im Jahre 1968 Mitglied der Gruppe Can, die in der auslaufenden Beat-Ära alles ganz anders machen wollte. Ihre oft experimentell klingenden Platten (Monster Movie, Tago Mago, Ege Bamyasi) waren beherrscht von gleichförmigen Rhythmen, in die sich lange vor der Erfindung der Sampling-Technik Geräusche und Schreie mischten. Can erspielte sich rasch internationalen Ruhm und wird bis heute von Größen wie Brian Eno und David Bowie nach wie vor in der Liste der wichtigsten Einflüsse geführt. 1977 verließ Czukay die Band und produzierte etliche Soloalben, die allesamt seine Vorliebe für klangliche Experimente hören lassen (www.czukay.de). Er arbeitete u.a. mit Musikern wie Peter Gabriel, The Edge und David Sylvian zusammen. Am Montag wird Holger Czukay 70 Jahre alt.

© SZ vom 22.03.2007/grc - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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