Musik:Virtuosen am Bahnsteig

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In Frankreich stehen an vielen Bahnhöfen Klaviere für die Reisenden. Und die reißen sich darum, spielen zu dürfen.

Von JOSEPH HANIMANN

Hochnäsig, missmutig, kaltschnäuzig: Die Erscheinung des unfreundlichen Franzosen, dem noch nie ein Lied gesummt oder gepfiffen über die Lippen kam, ist bekannt. Es gibt aber auch die anderen Franzosen. Man trifft sie ausgerechnet an Orten, wo man sich eigentlich aufregen könnte über verspätete Züge und dergleichen, nämlich auf Bahnhöfen. Dort sitzen sie am Klavier. Wer in letzter Zeit im Zug durchs Land reiste, konnte sie nicht übersehen. "A vous de jouer" (Sie sind dran) heißt ein 2014 lanciertes Projekt, das den Leuten die Wartezeit kurzweilig machen will. An die hundert Klaviere stehen landesweit mit aufgeklapptem Deckel in den Bahnhofshallen. Der Klavierstuhl davor ist mit Drahtseil angekettet, damit keiner ihn als Souvenir mitnehme. Wer also will, der kann. Und viele wollen sich am Instrument hervortun.

In Avignon steht es gleich neben der Tretmaschine unscheinbar an einer Wand

Mal steht es unscheinbar an einer Wand wie im TGV-Bahnhof in Avignon, gleich neben der Tretmaschine, auf welcher die Wartenden beim Aufladen ihrer Smartphones in ihre digitale Parallelwelt entschwinden. Manchmal steht das Klavier aber auch mitten in der Bahnhofshalle. In der Pariser Gare de Lyon prangt es auf einem orangefarbenen Teppich, mit bequemen Sesseln und Stehlampen drum herum, wie in einem Salon. Und wenn nicht gerade ungelenke Kinderfinger auf den Tasten herumklimpern, sind wahre Virtuosen am Werk.

"Das klingt, als hätte der Mann zwölf Finger an den Händen", raunt mitten im Urlauberrummel eine ältere Dame ihrer Nachbarin zu. Der neben ihr stehenden jungen Rucksacktouristin mit kahl geschorenem Schädel juckt es auch schon in den Fingern und immer neu zuckt sie ihr iPhone zum Knipsen. Der Mann im schweißdurchnässten T-Shirt am Klavier spielt ganze Barockopern. Er zaubert in wuchtigen Oktavläufen und feinen Tremoli das Orchester aus den Tasten und singt, zwischen Kopf- und Normalstimme wechselnd, sämtliche Rollen dazu. Beim Vor- und Zurückwippen des Körpers perlen in der Sommerhitze die Schweißtropfen wie Sprühregen der Leidenschaft aufs Instrument. Die Reisetasche lehnt neben dem Pedal und von Zeit zu Zeit dreht der Musiker blitzartig den Kopf zur Bahnhofsuhr, ob es auch für die nächste Arie noch reicht. Man wünschte, sein Zug würde nie abfahren.

Die Bahnhöfe sind in unserer mobilen Gesellschaft zu wahren Aufenthaltsorten geworden. Die Betreiber begnügen sich aber meistens mit der Abwicklung des Zugverkehrs und überlassen den Rest den Akteuren der Shopping Mall. Nicht so bei der französischen SNCF. Deren Filiale "Gares & Connexions" verweist die Läden in ihre Schranken und sorgt auf den 3000 Bahnhöfen im Land durch Architektur, Mobiliar und Design für ein besonderes Ambiente. Operationen wie die Einladung zum Klavierspiel oder ein mit dem Verlag Short Edition demnächst anlaufendes Programm zum Verfassen und Ausdrucken von Kurzgeschichten sind Ergänzungen dazu.

Entstanden ist die Einrichtung der Bahnhofsklaviere, nachdem ein auf der Pariser Gare Montparnasse eher beiläufig abgestelltes Piano vor vier Jahren enormen Zulauf fand. Durchgeführt wird das Programm zusammen mit dem Klavierfabrikanten Yamaha, der die Instrumente an die Bahngesellschaft vermietet und monatlich neu stimmt. Neben den Reisenden ziehen die Instrumente auch regelmäßig Bewohner aus der Umgebung an, die das Angebot des freien Klavierspiels samt Publikum nutzen. Vor zwei Jahren wurde sogar der Wettbewerb "A vous de jouer" gestartet, für den über 900 Videoaufnahmen eingingen und der zwei Jugendliche mit Preisen auszeichnete. "Die schönste Bestätigung für den Erfolg dieser Operation ist für uns, dass bisher trotz der Millionen von Passanten kein einziges Klavier beschädigt wurde", sagt Gaëlle Le Ficher von der SNCF. "Die Instrumente werden von allen mit Respekt behandelt."

Im Rummel der Bahnhöfe ist nun jeden Tag ein Fest der Musik

Dabei ist Musizieren und Singen alles andere als eine französische Tradition. Im straffen Unterrichtsprogramm der Schulen kommt es, außer in besonderen Wahlfachlehrgängen, allenfalls zur Entspannung vor. Der Besuch einer Musikschule gilt bei vielen Eltern weiterhin als Marotte, und Blaskapellen oder Gesangsvereine sind im Land eine Seltenheit. Gerade deshalb vielleicht wird das öffentliche Musikmachen gern zelebriert. Der Kulturminister Jack Lang hat 1982 den Tag der Sonnenwende im Juni zum "Fête de la musique" für Amateurmusikanten erklärt und damit inzwischen weit über Frankreich hinaus Anhänger gefunden.

Im Rummel der Bahnhöfe ist nun jeden Tag ein Fest der Musik. Und siehe, das Land, das seine Nationalhymne eher schmettert als singt, zeigt auf diesen Musikinseln bei guter Laune erstaunlich viele Talente. Erforderlich sind dafür Disziplin und Organisation. Entscheidend ist aber auch die gute Idee.

© SZ vom 08.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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