Musik: Gov't Mule:Der Sound weinender Tanksäulen

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Es gibt kein Ausweichen vor der Geschichte, nicht einmal in der Pop-Musik. Mit diesen elenden geriatrischen Aspekten geht nur eine Band angemessen offensiv um: "Gov't Mule" heißt sie.

THOMAS STEINFELD

Peinlich wirken viele Gerätschaften, mit denen der Rock in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren zur modernen Volksmusik wurde: die "Flying V" zum Beispiel, eine elektrische Gitarre aus der Fabrik von Orville Gibson in Kalamazoo, die geformt ist wie eine Pfeilspitze, ein Symbol von Kraft und Schnelligkeit und Angriffsbereitschaft.

Qualität im Zeichen des Maultiers: Der Muli ist Wappentier von Gov't Mule, und ihre Musik, zwischen weißem Blues, Soul, geradem Rock und ein wenig Jazz changierend, ist das Beste, was nach dem Ende der heroischen Periode in der populären Musik in diesen Genres hervorgebracht worden ist. (Foto: N/A)

Oder das Schlagzeug mit der doppelten Basstrommel, was immer so aussieht, als säße ein Oberkanonier hinter einer Batterie von dicken Rohren.

Oder das Wah-Wah, ein schwarzes Pedal wie von einer elektrischen Nähmaschine, mit dem sich auf der Gitarre der Ton eines greinenden Kleinkinds erzeugen ließ und das zum Vorläufer wurde einer ganzen Reihe von noch peinlicheren Erfindungen, der TalkBox oder dem Vocoder zum Beispiel - aber, ach, das ist alles längst vergessen und meistens auch nicht wiedergekehrt.

Eines ist all diesen Gerätschaften gemein: In ihnen verschmilzt der Stil mit dem Gerät, die Technik mit dem Körper.

Sie entstehen in dem Augenblick, in dem sich in einem neuen künstlerischen Genre, an neuen Instrumenten ein handwerkliches Können herausbildet, eine eigene Professionalität, die ihre Musiker zu Zentauren werden lässt, zu Mischwesen zwischen Menschen und Apparat.

Und sie sind, wie das scheinbar extrem aerodynamisch geformte Automobil der dreißiger, wie der Toaster der fünfziger Jahre, der im Vorgriff auf die automatische Küche einem Radio glich, nur für eine kurze Weile da.

Dann verschwinden sie in dem Maße, wie sich Technik und Handwerk vollenden. Ihr Klang scheint so für immer gebunden an eine bestimmte Zeit, und nicht nur an die Zeit, sondern auch an das Milieu, an das endlose Herumtrödeln und die Kneipen, das verschüttete Bier und das Lochbillard und die sinnlosen Autobahnfahrten.

Und es mag durchaus sein, dass die, allzu verständliche, Aversion der Jüngeren gegen dieses zottelige Milieu einen Unwillen erzeugt, der alles Musikalische überlagert. Denn im Konflikt zwischen Auge und Ohr siegt meistens das Auge.

In den Vereinigten Staaten gibt es seit einigen Jahren eine Gruppe, die so offensiv mit dieser Peinlichkeit umgeht, dass man meinen könnte, sie wolle sie von innen sprengen.

Govt Mule heißt diese Band, der Maulesel, das unfruchtbare, störrische, langsame, aber unendlich nützliche Lasttier, ist ihr Wappentier, und ihre Musik, zwischen weißem Blues, Soul, geradem Rock und ein wenig Jazz changierend, ist das Beste, was nach dem Ende der heroischen Periode in der populären Musik in diesen Genres hervorgebracht worden ist.

Es ist die klassische Form des Rock, und die Gruppe spielt sie weiter im Bewusstsein, dass sie gegen das Auge wird antreten müssen: Sehr vollschlank ist der Gitarrist und Sänger Warren Haynes, die Haare hängen lang, und wenn im Sommer im Freien Musik gemacht wird, wölbt sich der Bauch über bleichen Stachelbeinen in kurzen Hosen.

In der Stimme von Warren Haynes aber drängt ein süßer Schmerz, der Tanksäulen zum Heulen bringen könnte.

Zwischen der populären Musik und der Geschichte scheint ein Widerspruch zu herrschen. Denn zelebriert nicht der Pop die Gegenwart, sagt nicht der Beat "jetzt" und "eins, zwei, drei, vier," und wenn der Takt zu Ende ist, fängt er wieder an - besteht Pop nicht aus lauter kurzen Endlosschleifen, die den einen, immer von neuem entscheidenden Augenblick festhalten sollen, indem sie ihn so knapp und prägnant wie möglich umkreisen?

Deswegen scheint der Pop nicht alt werden zu können. Deswegen scheint er sich in jeder Saison, in jeder Woche, in jedem Moment neu erfinden zu müssen.

Und doch kann diese Fixierung auf den Augenblick, so sehr man sich auch bemüht, die Erinnerung nicht verhindern. Sie stellt sich, kaum dass so ein altes Lied im Radio aufgelegt wird, von allein ein, mitsamt einer mehr oder minder heftigen Erinnerung an eine vergangene Intensität. Nur, dass diese Erinnerung zum Chaotischen tendiert, zu einer Vergangenheit, die aus einer unendlichen Masse von Augenblicken besteht, die nur durch ein Nacheinander gegliedert wird. Diese Erinnerung nimmt sich aus wie ein imaginäres Festival, bei dem die Hollies und Bon Jovi, Duran Duran und die White Stripes hintereinander auftreten.

Längst ist die populäre Musik nicht mehr nur mit der Gegenwart, der aktuellen Hitparade im Bunde. Längst hat sich der "Oldie" als schattenhafter, sentimentaler Zwilling des "Hits" etabliert, und er wird nicht minder gnadenlos bewirtschaftet und verwaltet. Die "Oldie-Nacht" (der siebziger, der achtziger, der neunziger Jahre und so fort) organisiert die Erinnerung der Generationen an ihre Jugend.

Zwischen dem Hit von einst und dem Oldie von jetzt aber gibt es etwas gern übersehenes, überhörtes Drittes: die neu entstehende "alte Musik" des Pop, die aus der Ferne wie ein Oldie klingt, aber nie ein Hit war.

Wenn Warren Haynes seine Stimme erhebt, dann intoniert er wie ein Tenorsaxophon. Es braucht eine Weile, einen Hauch, bis die ausgestoßene Luft zum Ton findet, aber wenn sie sich dann zu einem Klang verdichtet, dann ist sie, in den unteren Registern, von gewaltiger Masse und Kraft. Darüber aber liegen Sorge und Schmerz, brechen den Ton, machen ihn rau und rissig. Im Klang der Gitarre, in seiner Schwere und Sprödigkeit wiederholt sich dieser störrische Heroismus: Hier wird eine Gibson gespielt, mit wenig Diskant und viel Mitte, verzerrt - denn was ist Verzerrung, wenn nicht der Ausdruck von sich selbst verzehrender Kraft? Der hellere, feinere Ton einer Fender wäre nichts für so viel Kummer, Dreck und Erdenschwere.

Diese Stimme erzählt vom Überleben. Denn das Überleben ist die einzige Form der Geschichte, die es in der populären Musik gibt. Es setzt eine Dramatisierung des Alltags voraus, eine Dramatisierung der heftigen Art. Selbstmord und Totschlag, Unfall und Verrat, Alkohol, Drogen und letzte Müdigkeit. Alles andere ist bloßes Weiterleben. Wenn die populäre Musik älter wird, und wenn sie es weiß, ist sie daher pures Pathos, Melodram, Kitsch. Dass so viele Musiker und Gruppen aus den sechziger und siebziger Jahren, wenn es sie denn heute noch gibt, längst den Habitus von Totengräbern, Abschiedsbriefschreibern, Klageweibern, Bestattungsunternehmern und Leichenpredigern angenommen haben, liegt also nicht nur in den Zufällen der jeweiligen Biographien und auch nicht daran, dass ein Leben im Rock n' Roll sich häufig mit einigen gesundheitlichen Risiken verbindet. Nein, es ist die einzige Art von Geschichte, die es in einer Unterhaltungskultur gibt.

Die Toten, das Überleben und ein offensiv schlechtes Gewissen verleihen den Hinterbliebenen historische Größe, und zwar nicht nur im Persönlichen, sondern auch im Musikalischen.

Was wäre aus den Rolling Stones geworden, wäre Brian Jones nicht ertrunken, was aus Pink Floyd, hätte die Gruppe ihrem toten Gitarristen Syd Barrett nicht "Wish You Were Here" hinterherschicken können, was aus Eric Clapton, wäre er dem Drogentod nicht gleich mehrfach entkommen, hätte in Stevie Ray Vaughan nicht den Gefährten verloren und mit "Tears in Heaven" seinem Sohn nicht eine Grabrede zum Mitweinen gewidmet.

Noch immer musizierende Gruppen gibt es, die Allman Brothers zum Beispiel, The Who, Queen, Little Feat, die sich allesamt wie Leichenzüge ausnehmen und den Toten stets näher zu sein scheinen als den Lebenden. Schon lange, schon seit Jahrzehnten, ist die populäre Musik eine Kunst der Hinfälligkeit.

Gezeichnet ist auch Govt Mule, und mehr als jede andere Gruppe inszeniert sie Geschichte. Entstanden ist sie aus einer Abspaltung von den Allman Brothers, wo Warren Haynes, der Gitarrist, und Allen Woody, der Bassist, zwei bei Motorradunfällen ums Leben gekommene Musiker ersetzt hatten.

Als Allen Woody - er hieß wirklich so - im Herbst des Jahres 2000 starb, an übergroßer Müdigkeit, wie es sich gehört, spielte Govt Mule als Huldigung an den unersetzlichen Toten zwei Schallplatten mit Gästen am Bass ein, und selten haben die Geister so heftig im Archiv getobt, von Jack Bruce, dem Bassisten von Cream, bis zu Flea, dem Bassisten der Red Hot Chili Peppers.

Zugleich aber ist die Ausweitung des Personals eine Eigenheit aller älter und dabei historisch werdenden Gruppen und der sie prägenden Musiker: Sie neigen zur Clanbildung, zur Selbstorganisation in großen Familien mit weitläufigen Verpflichtungen. Darin wird dasselbe Material immer wieder von neuem umgewälzt. Es entstehen "Standards", wie im Jazz, wie im Blues, und je weiter sich das Hin und Her der Verwandtschaften und Referenzen entwickelt, desto mehr gewinnt die Improvisation an Raum, das freie Spiel mit gegebenen Elementen. Zu den besten Aufnahmen, die es von Govt Mule gibt, gehören Konzertmitschnitte von "Spanish Moon", einem Stück, das Lowell George einst für "Little Feat" schrieb, und John Coltranes "Afro Blue".

Auch diese sind eine Einübung in die Kunst des Überlebens.

Denn je länger die Geschichte auch der populären Musik geht, desto weniger bleibt übrig von der konkreten Situation, in der dieses oder jenes kleine Werk entstanden war. Am Ende ist alle gute Musik nur noch unmittelbar zum guten Hören. Mit der Inszenierung des gelebten Augenblicks, dem eigentlichen Anliegen der populären Kultur, lässt sich dieser Historismus indessen schlecht verbinden. Um so weniger, als das Bewusstsein der Geschichtlichkeit auch in der populären Kultur das Pathos des Jetzt als Ideologie entlarvt, als vergeblichen, von vornherein zum Scheitern verurteilten Versuch, die Gegenwart gegenwärtiger zu machen, indem man sie musikalisch rahmt und ihr eine Tonspur hinzufügt.

Das Bündnis der populären Musik mit der Jugend, und gar gegen die Alten gewandt, als systematische Inanspruchnahme eines ebenso zufälligen wie zweifelhaften Privilegs, ist eine prekäre Angelegenheit. Und weil das so ist, weil es kein Ausweichen vor der Geschichte gibt und die Geschichte für einen Liebhaber des Augenblicks dennoch das Unerträgliche schlechthin ist, entstehen lauter Zwitter, Halbgewächse, Mischformen zwischen dem Vergangenen und dem Gegenwärtigen. Das Alte, so scheint es, ist daher zuweilen nur noch erlaubt, wenn es von jungen Menschen gemacht wird.

Deswegen gibt es Bands wie die Strokes, die White Stripes oder Franz Ferdinand. Was sie spielen, ist, in den Termini der klassischen Musik gesprochen, "alte Musik" auf Originalinstrumenten, dargeboten von Leuten, die noch nicht geboren waren, als Bob Dylan, die Beatles oder die Kinks diese Musik schufen.

Immer ist das Historische auch ein Fluch: Es hat schon so viel populäre Musik gegeben, seit fünfzig, sechzig Jahren, viel mehr, als je einer überschauen könnte. Und das Übermaß des historisch Vorhandenen beschädigt das Gegenwärtige, es macht es schwach, epigonal und leider meistens auch dumm, und dieses objektive Hindernis überspringt kein Adam Green und auch kein anderer, dem wieder einmal die unlösbare Aufgabe zugewiesen wird, die Urszenen des Genres zu beleben.

Es kommt gegen die Musik der Alten, von Alten gespielt, nicht an, denn diese besitzt, gleichermaßen unverdient, den Vorteil, dass man von ihr in Gestalt von Lebensläufen erzählen kann. Die Verhältnisse sind überschaubar, und für Warren Haynes gibt es Duane Allman und den frühen Eric Clapton, und für Eric Clapton gibt es Robert Johnson. Diese einfachen Genealogien enden alle in den siebziger Jahren.

Govt Mule hat nun, vielleicht weil zwei Musiker auf Dauer doch kein richtiges Trio bilden können, und schon gar keines nach dem Modell von Cream, die Stammbesetzung um einen Bassisten und einen Organisten erweitert - und in diesen Tagen eine neue Schallplatte veröffentlicht, mit lauter neuen Stücken, die das Zeug zum "Hit" und damit auch zum "Oldie" haben, aber beides nicht werden können.

Und wenn die Gruppe, zum ersten Mal in Deutschland, an diesem Wochenende in der Hamburger "Großen Freiheit" auftreten wird, soll sie so klingen wie immer, mitsamt Wah-Wah-Pedal. Denn in dieser Beständigkeit liegen ihr Zweck und ihr Grund.

Wie es danach mit dem Rock'n'Roll weitergeht? Nicht für immer und ewig, das ist gewiss. In der populären Musik sind schließlich schon ganz andere Genres auf Nimmerwiedersehen verschwunden, das Volkslied zum Beispiel oder die Musik des bürgerlichen Salons oder der Swing. Vielleicht war der Techno schon ein Vorgeschmack auf das schon so oft vorausgesagte Ende des Pop. Wahrscheinlicher aber ist es, dass uns dieses Ende, eben weil auch die letzten Fieberflecken so leicht und so glatt in die Ressourcen des Genres eingehen, schließlich sehr kalt erwischen wird.

Eine Katastrophe wäre das nicht.

© SZ v. 07.04.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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