Musik:Du liebst mich nicht

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Bei der "Schubertiade" in Österreich wurde der Tenor Ian Bostridge mit einem beleidigenden Zwischenruf konfrontiert: "Deutsch lernen!" Der Vorwurf ist sehr dumm. Aber die Sorge vor einer nationalistischen Enthemmung im Konzertsaal ist unbegründet.

Von Michael Stallknecht

Es war der Skandal des Sommers 1727: Am Londoner Haymarket Theatre hatten die beiden Primadonnen Francesca Cuzzoni und Faustina Bordoni ihr Publikum schon seit Monaten gespalten. Klatschten die Anhänger der einen, so pfiffen die der anderen oder sangen höhnisch ihre Arien mit. Schließlich eskalierte die Sache: Das Publikum ging mit Fäusten aufeinander los, während die Cuzzoni sich die Perücke vom Kopf riss und damit auf ihre Widersacherin eindrosch.

Da hat der Tenor Ian Bostridge wesentlich besonnener reagiert, als er nun einen Konzertbesucher der Schubertiade im österreichischen Schwarzenberg auf der Bühne zur Rede stellte. "Deutsch lernen!", hatte der ältere Herr bei Bostridges Liederabend mit Schubert-Liedern beim Schlussapplaus dazwischengerufen. Das Publikum reagierte mit betretenem Schweigen, wie ein Kritiker der FAZ berichtet, schließlich mit Buhrufen gegen den Vorwurf, der bei Ian Bostridge besonders grotesk ist.

Schließlich hat britische Sänger den zentralen Teil seines Lebenswerks dem deutschen Lied gewidmet, sein im vergangenen Jahr erschienenes Buch über Schuberts "Winterreise" ist ein Meisterwerk auch der philologischen Analyse. Der Vorfall erinnert zudem an einen anderen im Februar dieses Jahres, bei dem in der Kölner Philharmonie Teile des Publikums über eine Darbietung von Steve Reichs "Piano Phase" durch den Cembalisten Mahan Esfahani in Rage geraten waren. Auch dort hatte man Esfahani, als er dem Publikum das Stück auf Englisch vorstellen wollte, aufgefordert, deutsch zu sprechen.

Störungen aus dem Publikum gehören zur Musik - und leider auch dumme Kommentare

Ein Anlass zu großer Erregung, gar zur Sorge vor einer nationalistischen Enthemmung in den Konzertsälen, ist die Angelegenheit wohl dennoch nicht. Dass das Publikum einer Aufführung schweigend beiwohnt, ist in historischer Perspektive eher eine neue Erscheinung. Es war die kunstreligiöse Haltung des 19. Jahrhunderts, die dem Publikum erstmals maximale Affektkontrolle abverlangte. Der Zuhörer sollte der Kunst und den Künstlern dieselbe Andacht entgegen bringen wie sonst nur dem Gottesdienst. Richard Wagner trieb es mal wieder auf die Spitze, als er sich nach dem ersten Akt seines "Parsifal" sogar den Beifall verbeten haben soll.

Die Musikgeschichte, gerade die des 20. Jahrhunderts, wäre denn auch wesentlich ärmer ohne die Störungen aus dem Zuschauerraum, in denen sich manche Konzerte geradezu auflösten. Dabei verliefen die Fronten keineswegs immer linear zwischen den Fortschrittlichen auf der einen und den Konservativen auf der anderen Seite. Ästhetiken bekämpften einander, mit allen Arten emotionaler Äußerungen. Dass ein Publikum sich noch heute über ein fünfzig Jahre altes Stück wie Reichs "Piano Phase" zu erregen vermag, ist auch ein Beleg, wie lebendig und herausfordernd diese Musik noch immer ist.

Der Skandal war der Prüfstein der Moderne und bildet deshalb bis heute den geheimen Sehnsuchtsort nicht zuletzt vieler Musikjournalisten. Wer jede Publikumsäußerung als Ausbruch eines ungebildeten Mobs wertet, sollte sich deshalb überlegen, ob er gerne mit den Folgen leben würde: einem Publikum, das allem mit der gleichen schweigenden Indifferenz folgt. Ein Zuhörer, der sich im Konzert an etwas stört oder im Gegenteil etwas so großartig findet, dass er seinen gelangweilten Nachbarn am liebsten schütteln oder ohrfeigen würde, bekundet damit auch seine Leidenschaft für die Musik. Dass dazu auch mal sehr dumme Kommentare gehören wie der über Ian Bostridges unbezweifelbar gute deutsche Aussprache, ist wahrscheinlich der Preis, den man dafür zahlen muss.

© SZ vom 30.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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