Münchner Kammerspiele:Von Nöten und Noten

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David Marton inszeniert "Figaros Hochzeit" als Schauspielperformance. Dabei geht es weniger um Mozarts Oper als um deren Reflexion. Das bezaubert nur am Anfang.

Von Egbert Tholl

In Mozarts "Le Nozze di Figaro" singt Cherubino von der Liebe. Man muss sich diesen Cherubino als schwärmerischen Jüngling vorstellen, der jede Frau liebt, vor allem deshalb, weil er das andere Geschlecht gerade anfängt zu entdecken. Nun gibt es im Schauspielhaus der Münchner Kammerspiele auch einen "Figaro" und darin einen Cherubino, den Franz Rogowski spielt. Auch er ist fasziniert von den Frauen, auf entzückendste Art. Er nimmt etwa Susannas Hand und betrachtet sie wie eine nie gesehene Blume oder ein seltenes Kunstwerk, dessen Eigenart er überhaupt nicht begreifen kann. Rogowski hat den Blick eines Schafs auf einer blühenden Frühlingswiese, ist also auf träumerische Art völlig begeistert, so wie später vom Busen der Marcellina, die gegen die Erkundungen des lieben Kerls überhaupt nichts einzuwenden hat und lustig vor sich hin plappert. In diesen zarten Momenten stummer Bewunderung macht Rogowski zum ersten Mal auf wunderschöne Art plausibel, weshalb man ihn an die Kammerspiele engagiert hat. Denn diese Momente sind eben stumm, und singen kann und tut er nicht, er macht nur "uh" und "frr", aber in höchster Verzückung. Die Stimme, damit man doch noch ein bisschen was von der Arie "Non so più cosa" des Cherubino hört, leiht ihm Susanna, Jelena Kuljić, was eine gute Wahl ist.

In "La Sonnambula" schuf Marton aus dem Stoff eine eigene Welt - hier gelingt das nicht

1778 schrieb Pierre Augustin Caron de Beaumarchais sein Stück "Die Hochzeit des Figaro", das erst einmal von König Ludwig XVI. verboten wurde. 1786 hatte Mozarts gleichnamige Oper ihre Uraufführung, und Kaiser Joseph II. war begeistert. Nun nimmt sich David Marton der Oper an und untersucht, was passiert, wenn Schauspieler mit Mozarts Musik umgehen müssen. Und wie viel Revolution in dem Stoff enthalten ist.

Mag ja sein, dass Beaumarchais' Stück tatsächlich viel Kritik an der damals herrschenden Adelsklasse in sich trägt, aber quasi am Vorabend der Französischen Revolution ist die so visionär nun auch nicht. In Mozarts Oper bleibt davon vor allem der Umstand, dass Graf, Gräfin und deren Angestellte alle die gleichen Nöte haben, die Standesunterschiede in diesem Punkt also aufgehoben sind, alle leiden an der Liebe, dem Begehren, der Eifersucht. Die traurigste Arie singt ja die Gräfin, "Dove sono", trauert den verschwundenen schönen Augenblicken der Liebe hinterher. Diese Arie hört man bei Marton auch, in drei Sprachen, deutsch sprechgesungen von Annette Paulmann, die eigentlich die Marcellina spielt, mit französischer Eleganz erfüllt von Marie Goyette, Gräfin und Gast mit kanadischen Wurzeln, überwölbt von osteuropäischem Melos durch Kuljić.

Ähnlich wie in Martons verzaubernder Inszenierung von Bellinis "La Sonnambula" im Werkraum der Kammerspiele gibt es im "Figaro" das Glück des Nachempfindens der Musik. Umgeben von einer schönen Geigerin aus Israel (Nurit Stark), einem verlotterten Cembalisten aus der Ukraine (Andrei Slota), zwei Flötistinnen, einer Oboe und einer Klarinette, angeleitet vom sehr auf ein musikalischen Eigenleben bedachten Pianisten (Michael Wilhelmi), eignen sich die Schauspieler Mozarts Musik an. Hören ihr nach. Finden mit ihren Körpern einen Ausdruck. Da wandert Figaros "Se vuol ballare" durch den Raum, dort vermessen diesen alle gemeinsam, wie es Figaro zu Beginn der Oper tut. Das ist alles ganz schön, da wird die Musik auch mal einer alten Walze abgelauscht, da huschen die Klänge über die Bühne, auf der zwei Sessel, ein Klavier, ein nutzloser Kamin, eine Füßchenbadewanne und später ein klassizistischer Rohbau stehen und man mehr oder minder aufgeregt eine Bahn aus Rindenmulch beschreiten kann.

Doch nach 45 Minuten ist das Glück vorbei, der Graf, der seltsam mehlig agierende Niels Bormann, macht ein bisschen den Spielleiter, fühlt sich wie Ludwig XVI., der Beaumarchais sein will, in Morgenrock und Satinschlafanzughose. Marton findet nur einen Weg aus seinem Misstrauen dem Opernbetrieb gegenüber: Er verlässt Mozart, lässt das multinationale Ensemble reden, wie ihm der Schnabel qua Geburt gewachsen ist, und lässt Suaden über Bourgeoisie, Diktatur, Kunsttheorie und die mögliche Anarchie der Avantgarde übereinander schichten. Das ist leider so wenig geistreich wie ziemlich fad und wirkt wie die Adagio-Version eines Pollesch-Prestos.

In seiner "Sonnambula" gelang es Marton auf ebenso poetische wie kluge Weise, aus Bellinis Klangmaterial selbst eine neue, offene Welt zu schaffen. Hier nun, vielleicht weil Mozarts "Figaro" ein viel enger verzahntes, gleichwohl auch geschwätzigeres Stück ist, findet er keine evolutorische Lösung, sondern klatscht das Nachdenken über das Verhältnis von Kunst zur Gesellschaft einfach drauf wie eine dicke Soße, unter der jedes bis dahin berückende Funkeln erstickt.

Erst kurz vor Schluss der knapp zweieinhalb Stunden fängt sich der Abend wieder. Dann singt der Figaro Thorbjörn Björnsson, der einzige Opernsänger in der Aufführung, ein deutsches Lied von einem biedermeierlichen Glück, und das Ensemble formiert sich zum Gruppenbild wie zu Beginn. Man kann das auch als eine ostentative Kapitulation des Bilderstürmers Marton vor der bürgerlichen Macht der Gattung Oper begreifen, und das wäre so klug wie schön, ja fast weise. Und keineswegs resignativ.

© SZ vom 13.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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