"Monster wie wir":Mein Onkel

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Die Heimatregion der Erzählerin Ruhr wurde durch Braunkohleabbau in eine Kraterlandschaft verwandelt. (Foto: Arno Burgi/dpa)

In Ulrike Almut Sandigs Roman geht es um Missbrauch und Neonazis.

Von Kristina Maidt-Zinke

Das Einleitungskapitel heißt "Mondster". Das erinnert daran, dass Ulrike Almut Sandig, Jahrgang 1979, vorwiegend als Lyrikerin und Soundkünstlerin arbeitet, und könnte entsprechende Erwartungen an ihr Romandebüt wecken: Sprachschöpfungen, Wortspiele, doppelte Böden und Schräglagen, ein experimenteller Zugriff auf die Wirklichkeit, wie ihn die Autorin schon in Erzählungen erprobt hat. Aber diesmal verfährt sie anders. Sie löst den Romantitel "Monster wie wir" ein, indem sie in einer klangbewussten und beschreibungsstarken, doch eher sachlichen Prosa zwei realistische Geschichten erzählt, die locker miteinander verknüpft sind und die beide von monströsen, das heißt: ungeheuerlichen Vorgängen handeln. Im Klappentext ist die Rede von Um- und Aufbrüchen, von Identitätssuche und von "Gewalt" in einem nicht näher definierten Sinn. Tatsächlich tritt Gewalt hier in mehreren Varianten auf, aber im Zentrum steht der sexuelle Missbrauch an Kindern innerhalb der Familie. Das ist wichtig zu wissen, weil der Roman dadurch einen dringlichen Ernst erhält, der es in gewisser Weise erschwert, über seine literarische Qualität zu urteilen.

In der Einleitung, die nach Art einer musikalischen Exposition die Themen vorstellt, bleibt das noch verborgen. Da richtet die Erzählerin Ruth, eine erfolgreiche Pianistin, das Wort an einen Mann namens Voitto, den sie liebt und dessen Akzent (es ist der finnische) das Wort "Monster" mondsüchtig klingen lässt. Eine problematische Beziehung wird angedeutet; es ist ferner die Rede von der "ostdeutschen Pampa", Ruths Heimatregion, die durch den Braunkohleabbau in eine Kraterlandschaft verwandelt wurde, und von Viktor, dem Jugendfreund, der stets im Publikum sitzt, wenn Ruth in ostdeutschen Konzertsälen spielt, und mitten im Schlussapplaus aufsteht und geht. Eine flüchtige, offenkundig panikbesetzte Erinnerung an den Großvater könnte etwas verraten, aber noch wird die Aufmerksamkeit des Lesers zerstreut. Und wenn dann die erste Geschichte beginnt, in der die Autorin unübersehbar auch Autobiografisches gestaltet, sind es zunächst ganz andere Dinge, die berühren.

Im Elternhaus herrscht kein Frieden, von den Nachbarn hört man Gebrüll

Etwa, gleich zu Anfang, dieses kleine Traumprotokoll: "Einmal schwamm ich im Uterus meiner Mutter. Er war eng und mit Wänden versehen, die meinem Aufprall federnd nachgaben, um mich gleich wieder zurückzuschieben ins Zwielicht ihres Körpers, das natürlich rötlich war, obwohl ich die einschlägigen Dokumentationen erst Jahrzehnte später sah. Von außerhalb der Bauchdecke hörte ich Geräusche, ein Öffnen und Schließen von Türen oder Eisenluken, ein Schaufeln und Schaben von Eisen auf Eisen, gedämpftes Knistern und Knacken, rhythmisches Donnern wie von Kohlen beim Aufprall und das Kratzen der Ofenzange, unterbrochen von ihrer Stimme, die jemandem etwas mitzuteilen schien."

Eine Kindheit in einem sächsischen Pfarrhaushalt der späten DDR, grundiert von einer latenten Bedrohung, die wiederum wenig mit politischen Verhältnissen zu tun hat: Im christlichen, gebildeten Elternhaus herrscht kein Frieden, von den Nachbarn hört man Gebrüll, die Mutter zeigt ein Fotoalbum aus ihrer Schulzeit, in dem viele Kinder mit Prügelspuren zu sehen sind. Das Schlimmste aber sind die Geheimnisse, die Viktor, Ruths Klassenkamerad und bester Freund, ihr wie beiläufig mitteilt, ohne dass sie deren Tragweite versteht.

Viktor, Sohn eines NVA-Offiziers und einer Ukrainerin, wird vom Mann seiner Halbschwester missbraucht. Und er kann sich keinem Erwachsenen anvertrauen, genausowenig wie die musikbegabte, von Eltern und Bruder geliebte Ruth irgend jemandem zu erzählen wagt, was ihr Großvater mit ihr macht und warum sie Angst vor Vampiren hat. Wie bei den großen kirchen- und schulinternen Missbrauchsskandalen, die in den letzten Jahren aufgedeckt wurden, bestürzt auch hier der Mechanismus von Schweigen und Verdrängung, die Nicht-Kommunikation zwischen Eltern und Kindern, die jedem, der zum Glück nichts Derartiges erfahren hat, schier unbegreiflich erscheinen muss - woran Ulrike Almut Sandigs einfühlsame Darstellung nichts ändert.

Auch nicht in der zweiten Geschichte, die mit Viktors Werdegang die Spirale noch einmal bis zur Schmerzgrenze weiterdreht. Der junge Deutsch-Ukrainer, inzwischen von hünenhafter Statur, gerät in die Neonazi-Szene, bevor er zur allgemeinen Verwunderung beschließt, als Au-pair nach Südfrankreich zu gehen.

"Wenn man nicht davon erzählt, ist es nicht geschehen"

Dort läuft die Erzählung zu einer Anschaulichkeit auf, die kurzzeitig von ihrem Anliegen ablenkt: Die Oberschicht-Familie in einer Vorstadt von Marseille, französischer Lebensstil und Viktors Fremdheit sind fein charakterisiert; man fühlt sich stellenweise gar an Tatis "Mon oncle" erinnert, obwohl es in diesem Kontext wahrlich nichts zu lachen gibt. Denn hier ist es Monsieur, der seinen zehnjährigen Stiefsohn missbraucht, offenbar mit Duldung von Madame. Der entsetzte Viktor, von seinen Arbeitgebern spaßeshalber "Victoire" genannt, findet Unterstützung bei einer jungen ukrainischen Kollegin und einem amerikanischen Veteranen aus der Nachbarschaft und kann seiner angestauten Wut endlich Luft machen. Aber es besteht kein Zweifel daran, dass nach der Flucht des nun als Gewalttäter abgestempelten Au-pair-Mannes alles unter den Teppich gekehrt wird - oder vielmehr im praktischen Zentralstaubsauger der Komfortvilla verschwindet.

Selbst bei einem so dramatischen Thema kann es ein "Zuviel" geben, das den Stoff aus der Form geraten lässt. Im zweiten Teil von "Monster wie wir" betrifft das vor allem die eingestreuten Kommentare der kleinen Schwester des Missbrauchsopfers, die nicht nur überflüssig, sondern in ihrer Altklugheit völlig unglaubwürdig wirken. Wie zum Ausgleich übt sich die Erzählerin im dritten, kürzesten Romanteil in der Kunst der Knappheit. Auf wenigen Seiten erfahren wir: Ruths Beziehung zu dem finnischen Bariton Voitto hat - was zu erwarten war - eine gewalttätige Seite. Ihr Bruder ist unter die Waldbesetzer gegangen, die gegen den Braunkohleabbau rebellieren. Und Viktor ist der einzige Mensch ihn ihrem Leben, den sie "voll und ganz" versteht.

Als Leser hat man die Beweggründe für das Buch längst verstanden: "Wenn man nicht davon erzählt, ist es nicht geschehen", heißt es einmal. Und doch bleibt die Frage offen, ob die Konzentration auf ein Sujet wie dieses nicht auch den Blick verengen und damit die literarischen Möglichkeiten beschneiden kann. Denn das ist, bei allem Respekt vor Ulrike Almut Sandigs Courage und Feingefühl, der Eindruck, den ihr Roman zurücklässt.

Ulrike Almut Sandig : Monster wie wir. Roman. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2020. 236 Seiten, 22 Euro.

© SZ vom 24.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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