Mit Worten kämpfen:Fackel und Magie

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Der Widersprecher: Jens Malte Fischers Biografie erschließt Karl Kraus und seine Welt neu.

Von Lothar Müller

Er hatte nicht nur Leser, er hatte Anhänger. Er hatte nicht nur Gegner, er hatte Feinde. Seine Anhänger schlug er nicht nur mit seinen Schriften in seinen Bann, sondern zugleich mit seiner Stimme, im Vortragssaal. Er errichtete ein Stimmtheater, in dem er Shakespeare, Jacques Offenbach und seine eigenen Gedichte und Artikel aufführte. Zu den Lesern seiner Zeitschrift Die Fackel, die er von 1899 bis zu seinem Tod im Jahre 1936 herausgab, zählten Sigmund Freud und Bertolt Brecht. Er schrieb von Beginn an gegen den Ersten Weltkrieg an, gegen das "technoromantische Abenteuer", er schwieg lange, nachdem Ende Januar 1933 in Deutschland Adolf Hitler an die Macht gekommen war. Und er führte auf der Rückseite seiner öffentlichen Existenz ein Privatleben, dessen Umrisse erst nach seinem Tod hervortraten.

In jeder Biografie steckt ein Selbstporträt ihres Verfassers. Er wählt seinen Gegenstand ja nicht von ungefähr, und auch nicht den Einfallswinkel, aus dem er ihn betrachtet. Hier sieht es fast so aus, als habe sich der Gegenstand seinen Autor gewählt. Im Jahr 1963, berichtet der Germanist und Musikwissenschaftler Jens Malte Fischer am Ende seiner monumentalen Biografie über Karl Kraus, habe er als junger Student in München auf der Suche nach Literatur über Kafka aus dem benachbarten Kraus-Bestand einen Band aus der Werkausgabe des Kösel Verlages gegriffen, gelesen und seitdem habe das Interesse an diesem Autor in seinem Leben einen festen Platz.

Mehr als ein halbes Jahrhundert liegt die Urszene zurück, aus der Fischers Dissertation über Karl Kraus hervorging, immer wieder hat er über ihn geschrieben, nun liegt die Summe vor. Der Literaturhistoriker hat darin nicht das erste und nicht das letzte Wort. Er gibt die Form vor, die sich mit der Nacherzählung von Lebensstationen nicht begnügt, sondern die Biografie zu einer Monografie über das Werk ausweitet. Sie erschließt im Modell "Karl Kraus und eine Zeit" den Autor neu.

Der Literarhistoriker Fischer liefert die Exkurse zur Poetik von Aphorismus, Epigramm und Phrase, er bestückt das Kaleidoskop der Minibiografien von Zeitgenossen, etwa August Strindberg, Frank Wedekind oder Otto Weininger. Er blättert die Theatergeschichte, besonders die des Burgtheaters auf und bettet die Polemik gegen die Presse in die Geschichte der Zeitungen in Österreich ein. Aber Ton und Einfallswinkel der Darstellung entstammen nicht der akademischen Gelehrsamkeit, sondern dem Umstand, dass hier ein nachgeborener Kraus-Anhänger schreibt.

Sein Unternehmen ist ein Projekt der Rettung. Lang ist es her, dass Helmut Qualtinger das Riesen-Weltkriegsdrama "Die letzten Tage der Menschheit" gekürzt in ein Ein-Mann-Stimmentheater verwandelt, der Regisseur Hans Hollmann es, ebenfalls gekürzt, an zwei Abenden auf die Bühne gebracht hat. Was Die Fackel betrifft, so gibt es inzwischen eine frei zugängliche digitale Ausgabe, auf die Fischer nachdrücklich verweist.

Zur Rettung vor dem Vergessen tritt die Rettung vor dem Kopfschütteln über Karl Kraus, das schon zu Lebzeiten begann. Sein Verhältnis zum Judentum, dem er entstammte, wurde dem "jüdischen Selbsthass" zugeordnet. Warum stand im Zentrum seiner Attacken auf den "Untergang der Welt durch schwarze Magie" die politisch liberale Wiener Neue Freie Presse, nicht aber die Phalanx der völkisch-nationalen und antisemitischen Blätter? Warum trat er 1934 für Engelbert Dollfuß ein, der in der Krise der österreichischen Republik den Abbau der demokratischen Institutionen vorantrieb?

"Der Widersprecher" heißt diese Biografie im Untertitel. Sie zeigt Karl Kraus als Widersacher seiner Feinde, etwa Maximilian Harden, Alfred Kerr oder Anton Kuh, der Zeitungsherausgeber Moriz Benedikt und Imre Békessy (ihm galt die Parole "Hinaus aus Wien mit dem Schuft!"). Sie zeigt ihn aber auch im Widerstreit mit sich selbst, und manchmal sieht sich der Biograf gezwungen, Kraus die Gefolgschaft zu verweigern. Das fällt ihm einigermaßen leicht im Blick auf die Polemik "Heine und die Folgen" (1910), in der Kraus Heine arg verzeichnen muss, um ihn zum Ahnherrn der Sprache des landläufigen Feuilletons machen zu können.

Es fällt ihm aber schwer, wenn es um den Kern der intellektuellen Existenz seines Helden geht. Dazu gehören der frühe Abschied vom Judentum und das Plädoyer für radikale Assimilation, aber auch Spott und Hohn gegen jüdische Zeitgenossen. Um die Nähe seiner Rhetorik zum rassistischen Antisemitismus scherte Kraus sich nicht, weil er diesen unter- und sich überschätzte. Fischer muss im Blick auf den Nationalsozialismus dieses bittere Fazit ziehen. Zugleich gelingt ihm, im Blick auf den erst postum vollständig publizierten Essay "Die dritte Walpurgisnacht", die Korrektur der Legende, Karl Kraus habe zu Hitler geschwiegen.

Zu Recht spielen die Frauen im Leben von Karl Kraus in der Biografie eine große Rolle, allen voran Sidonie Nádherný von Borutin, als Liebespartnerin wie als Adressatin zahlloser Briefe. Sie eine selbstbewusste Frau, kein "süßes Mädel". Da Fischer aber stets das gesamte kulturelle Feld ausmisst, in dem Kraus sich bewegt, kommt auch die zeitgenössische Idolisierung der "Kindsfrau" ins Spiel, etwa - mit dem Akzent auf "Kind" - durch den von Kraus verehrten Poeten Peter Altenberg.

Was "Sittlichkeit und Kriminalität" betraf, hat Kraus stets die Homosexuellen mit dem Argument verteidigt, wo sich Mündige einig seien, habe der Staat nichts zu suchen. Noch nicht lange sind die Akten des Prozesses öffentlich zugänglich, in dem der Architekt Adolf Loos 1928 zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde, weil er zwei Mädchen unter vierzehn Jahren "zu unzüchtigen Positionen animierte und sie in solchen zeichnete". Weitergehende Vorwürfe erkannte das Gericht wegen Zweifel an den Zeugen nicht an. Die von Fischer angeführte Liste von Kulturschaffenden, die für Loos eintraten oder wie Karl Kraus zu dem Prozess schwiegen, ist beeindruckend.

© SZ vom 10.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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