Milo Rau:Bitte pünktlich zur Revolution!

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Mit dem "Sturm auf den Reichstag" endet das Weltparlament des Schweizer Theatermachers Milo Rau. (Foto: Michael Kappeler/dpa)

Milo Raus "Sturm auf den Reichstag" pendelt zwischen Freiluft-Mitmachtheater, sportlichem Erlebnisangebot und bescheidenem Beitrag zum Umsturz aller ungerechten Verhältnisse.

Von Peter Laudenbach

In Berlin mag so einiges nicht funktionieren, aber immerhin die Revolution beginnt pünktlich. Um 15 Uhr am Dienstag hat der Theaterregisseur Milo Rau, ein ordnungsliebender Schweizer, zum "Sturm auf den Reichstag" gebeten. Der Termin, auf den Tag genau 100 Jahre nach dem Sturm auf den Winterpalast in Sankt Petersburg, mit dem in Russland die Oktoberrevolution begann, ist symbolträchtig gewählt. Über den kleinen Unterschied zwischen dem demokratisch gewählten deutschen Bundestag und dem einstigen Palast des Zaren geht man im Bewusstsein der eigenen historischen Mission großzügig hinweg. Kurz nach 15 Uhr kann ein gelangweilter Polizist seinen Vorgesetzten den "Beginn der Veranstaltung" melden.

Ein Häuflein Revolutions-, Sturm- und Theaterinteressierter hat sich gegenüber dem Reichstagsgebäude versammelt, sie sind kaum von den zahlreich umherflanierenden Touristen zu unterscheiden. Mit dem symbolischen "Sturm auf den Reichstag" liefert Rau den Epilog zu seiner an der Berliner Schaubühne veranstalteten "General Assembly", dem Versuch einer alternativen Theater-UN der Zivilgesellschaft. Als ersten Schritt zu einem Weltparlament der Nichtprivilegierten will Rau mal eben eine Plattform für die Verdammten dieser Erde inszenieren, nun ja. Gefördert wurde das Projekt mit 100 000 Euro von der Kulturstiftung des Bundes.

Wahrscheinlich ist es Kunst, also harmlos

Überzeugend und ernsthaft sind vor dem Reichstag dagegen die kurzen Redebeiträge einiger Delegierter - etwa eines Roma, der die auch in Deutschland anhaltende Diskriminierung der größten ethnischen Minderheit Europas hart und deutlich benennt. Ein amerikanischer Whistleblower, der an der Entwicklung von Drohnen für die US Army beteiligt war, gehört ebenso zu den Rednern wie ein Umweltaktivist von den Philippinen. Der von Milo Rau gesetzte Rahmen samt dem gut entwickelten Künstler-Selbstmarketing und dem so pathetischen wie konfusen Querverweis auf die Oktoberrevolution wirkt reichlich verblasen. Der Anspruch, der globalen Unterschicht ein Forum zu bieten, ist so vermessen wie in der Empörung über die Selbstzufriedenheit der Wohlstandszonen einleuchtend.

Die Frage, ob es sich beim anschließenden Sprint zum Reichstagsgebäude eher um Freiluft-Mitmachtheater, ein sportliches Erlebnisangebot oder vielleicht doch um einen bescheidenen Beitrag zum Umsturz aller ungerechten Verhältnisse handelt, muss naturgemäß offen bleiben. Zumindest aus Sicht der mäßig interessierten Ordnungskräfte scheint sich die Revolutionsgefahr in engen Grenzen zu halten: Wahrscheinlich ist es Kunst, also harmlos. Von mindestens doppelbödiger Ironie zeugt in diesem Zusammenhang die Parole eines Aktivisten: "Die Zeit des Zuschauens ist vorbei." Interessante Feststellung im Theaterkontext.

Aber weil es den Kunstaktivisten dann vor allem um die Zuschauer und die Bilder für die zahlreichen Kameraleute geht, verlangt es einige Sorgfalt, die gewünschte Aufmarsch-Choreografie zu erstellen. "Gehen wir zur Startlinie auf der Mitte der Wiese", bittet Chefanimateur Milo Rau die Demonstrations-Statisten. Und damit die Bilder des Remakes den berühmten historischen Aufnahmen vom Sturm auf das Winterpalais ähneln, bitte in einem schmalen Keil voranstürmen! Am Absperrgitter ist natürlich Schluss, man will keinen Ärger. Nach ziemlich genau einer Stunde ist der theaterrevolutionären Pflicht zur Bilderproduktion Genüge getan, Feierabend.

Lenin, der bekanntlich höhnte, wenn die Deutschen Revolution machen, würden sie vorher eine Bahnsteigkarte lösen, hätte seine sarkastische Freude an diesem Nachmittag gehabt: Wenn ein Schweizer den Spaß organisiert, fahren sogar die Züge für die Bahnsteigkartenbesitzer pünktlich.

© SZ vom 09.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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