Miljenko Jergović' Roman "Der rote Jaguar":Kroate, Serbe, Bosniak

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Bei Miljenko Jergović fängt Gewalt immer mit den Zuschreibungen an. Sein neuer Roman aber ist ihm missglückt.

Von Nico Bleutge

Nach dem Bosnien-Krieg, heißt es zu Beginn dieses Romans einmal, hätten zahllose Menschen darunter gelitten, dass Geschosssplitter aus ihren Körpern drangen. Reste von Schrapnells oder Granaten. Ein Zeit lang lagen sie unter der Haut, brachen dann irgendwann durch und kamen heraus. Als würden Kinder ihre Milchzähne verlieren. Oder als würden Erinnerungen sich ihren Weg an die Oberfläche des Bewusstseins suchen.

Miljenko Jergović, der 1966 in Sarajevo geboren wurde, ist der große Vivisecteur der Bilder in unseren Köpfen. Es sind jene Bilder, denen man nicht entkommt. Vorurteile, gespeist aus Ängsten oder Hass, "Zerrbilder", wie Jergović an einer Stelle schreibt, die regelmäßig hervorbrechen und die ganze Wahrnehmung bestimmen.

Spätestens seit seinem Roman "Buick Rivera" (2002) sind damit vor allem Zuschreibungen gemeint, Selbst- und Fremdzuweisungen als "Kroate", "Serbe" oder "Bosniak", die in extremer Weise nationalistisch instrumentalisiert werden. In vielen seiner Erzählungen und Romane hat Jergović gezeigt, wie sich solche Zerrbilder über ein Jahrhundert hinweg entwickelt haben, um in den Jugoslawien-Konflikten der 90er-Jahre ihren blutigen Höhepunkt zu finden - und wie sich seither ihre Wirkkraft immer weiter entfaltet.

In Wien will Zoran ein Leben führen, in dem nichts an seine Herkunft erinnert

In seinem neuen Roman spitzt Jergović diese Sichtweise noch einmal zu. Von zwei Seiten aus setzt er sein Erzählen in Gang. Da ist zum einen Zoran. Er und seine Frau Borka haben ein halbes Leben lang erfahren, was es heißt, in Sarajevo als Serben identifiziert, ausgegrenzt und immer wieder auch bedroht zu werden. Dafür genügte es, seinen Namen zu nennen. Was ihr Leben seither bestimmt, ist Angst. Um etwas gegen diese Angst zu tun, setzen sie sich nicht etwa mit ihr auseinander, sondern akzeptieren die ihnen zugedachten Rollen, mehr noch, füllen sie in idealer Weise aus. Doch die Strategie trägt nicht. So schwenken sie um und flüchten nach Wien, um dort ein Dasein zu führen, in dem nichts mehr an ihre Herkunft erinnert.

Aber auch in Wien greifen die alten Muster, sobald Zoran auf "Landsleute" trifft, zum Beispiel aus Kroatien. Wie Jergović dieses Wirksamwerden einer tief verankerten Vorurteilsstruktur beschreibt, ist eine Kunst für sich: "Unvermittelt erkenne ich mich in ihrem Bild von einem Serben wieder und wehre mich gegen dieses Bild und was es alles bedeuten könnte, indem sie in meinem Kopf zu Kroaten werden, und zwar den Kroaten aus dem Zweiten Weltkrieg, die in Jasenovac folterten und mordeten, und zu den Kroaten, die in der jüngeren Vergangenheit das Kloster Žitomislići samt Kirche zerstörten."

Ein solcher Mensch, der sich ganz und gar über das Klischee eines Kroaten definiert, ist die Hauptfigur des zweiten Erzählstrangs: Ante Gavran alias Ćumur, der wie Zoran seine Geschichte selbst skizziert. Aus schwierigen sozialen Verhältnissen stammend, landete er in jungen Jahren in einem Heim für Schwererziehbare, weil er eine Parole des Faschisten Ante Pavelić in den frischen Beton einer Türschwelle schrieb. Seine Karriere beim Militär, wo er schließlich General wird und eine wichtige Rolle im Bosnien-Krieg spielt, verdankt sich dem Fortschreiben dieser Linie: "Damals wusste ich nichts vom Führer der Kroaten (...). Heute schätze und liebe ich ihn!"

Nach und nach kippt der Roman in ein halbdystopisches Szenario, es kommt zu Pogromen

Es ist nur konsequent von Miljenko Jergović, dass er seine Hauptfiguren in der Ich-Form erzählen lässt, denn so dockt man beim Lesen an ihre Denk- und Wahrnehmungsbewegung an. Und erlebt dabei Selbstanfeuerungen und Machtmuster - und gerade auch Vorurteile, Denkschleifen, Verdrängungsstrukturen und blinde Flecke in der Wahrnehmung. Wobei im Fall von Ćumur noch ein spezifischer Sprechgestus hinzukommt, der viel mit Selbstinszenierung zu tun hat: Er gibt offenbar einer Journalistin ein Interview.

Die mehr als blutige Pointe, die sich Jergović für seine beiden Hauptfiguren ausgedacht hat, zündet parallel zu einem Fußballspiel zwischen Serbien und Kroatien, das an einem späten Augusttag stattfindet. Ein Unfall, bei dem Ćumurs Sohn durch Zorans Wagen verletzt wird, lässt dieselben Feindschaftsbilder aufblühen und dieselben Hassgefühle hochkochen, die auch auf dem Spielfeld vorherrschend sind. Spätestens bei der mehrfachen Nennung der Jahreszahl "20XY" wird deutlich, dass der Roman nach und nach in ein halbdystopisches Szenario kippt.

Was folgt, ist eine durch aufputschende Meldungen in den sozialen Medien angefeuerte Phase von Ausschreitungen, die man später mit dem Begriff "Pogrom" zusammenfassen wird. Jergović verbindet hier die Analyse nationalistischer Denkweisen mit einer Fallstudie über die Frage, welche Rolle die Kommunikationskanäle spielen, die das postfaktische Zeitalter bestimmen. Eine Welle von einseitigen oder schlichtweg falschen Meldungen genügt - und der Hass bricht sich Bahn.

Miljenko Jergović: Der rote Jaguar. Roman. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2021. 191 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

So überzeugend die Ich-Erzählungen von Zoran und Ćumur sind, so problematisch ist dieser dritte Teil des Buches. Es gehört zu seinen Stärken, dass er in einer Art Berichtform angelegt ist. So bildet er ein Gegengewicht zu den subjektiven Erzählteilen von Zoran und Ćumur. Jergović inszeniert unterschiedliche Quellen und Textsorten und mischt historische Daten und Erfundenes - mit diesem fingierten Dokumentarismus zeigt er zugleich, welche Kraft jene analogen Techniken haben können, deren Versagen er auf der stofflichen Ebene beschreibt. Als wolle er das Erzählen in seiner ganzen Brüchigkeit stark machen gegen alle twitterartigen Sätze und News-Feeds.

Aber es ist nicht klar, wer in diesem Schlussteil eigentlich spricht. Ein Arrangeur von Materialien? Ein plötzlich hochploppender Berichterstatter? Auf jeden Fall jemand, der unter der Hand doch Kommentare und Wertungen in die Sätze einspeist. Zudem arbeitet Jergović nun zunehmend mit Reihungen, die das Geschehen in alle möglichen Weltgegenden ausweiten und so verwässern: "Die kollektive Paranoia spielte längst Populisten, Nationalisten und Verschwörungstheoretikern von Rio de Janeiro bis Jakarta und von Brižnik bis Washington in die Hände."

Bei alldem bewegt er sich eher unentschlossen zwischen Beschreibung und Satire hin und her. Das kratzt den harten Kern seines Buches und seine klugen literarischen Analysen immer wieder an. So bleibt einem nach der Lektüre vor allem ein Satz von Zoran im Gedächtnis, mit dem er sein eigenes Erzählen beschreibt: "O je, jetzt gehen mir die Pferde durch ..."

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