Hans-Peter Schwarz gehört zu den Großen seines Faches: ein scharf denkender Zeithistoriker und Politikwissenschaftler, ein Analytiker der Macht, ein Chronist der "alten Bundesrepublik" und der Weltpolitik, zu Recht gerühmt wegen seiner Biografien über Konrad Adenauer und Helmut Kohl. Schwarz hat sich nie gescheut, gegen den angeblich so "linken" Zeitgeist anzuschreiben - und das in einer fein gedrechselten, oft bissig-ironischen Sprache, die auch diejenigen schätzten, die nicht seiner Meinung waren. Doch sein neues Buch über die Ursachen und Folgen der "Flüchtlingskrise" dürfte weniger als nachdenklicher Beitrag zur bundesrepublikanischen Gegenwart in Erinnerung bleiben denn als zeithistorische Quelle für einen erschreckend verunsicherten, hart gewordenen Konservativismus, der keine Hemmungen vor polemischer Vereinfachung hat.
Seine Geschichte der "neuen Völkerwanderung nach Europa" trägt das Problem bereits im Titel. Natürlich weiß Schwarz um die Assoziationen, die mit dem Begriff verbunden sind: all die abendländischen Untergangsszenarien, die Geschichten kulturellen Verfalls und der "Überfremdung", der vermeintlichen Notwendigkeit, die Nation vor den "Fremden" zu schützen, um das eigene Überleben zu retten. Hunnen und Barbaren - wohin das Auge reicht. Und dennoch bedient er solche Stereotype beinahe auf jeder Seite. Aus den Flüchtenden der Jahre 2015 und 2016 werden dann "Elendsmigranten", die die deutschen Grenzen überrennen, die "Vorhut" womöglich "weiterer Millionen perspektivloser junger Leute", die sich auf dem Weg ins gelobte Land machen würden. Die deutsche Reaktion, die Politik Angela Merkels und weiter Teile der politischen Eliten, hält Schwarz zwar für moralisch nachvollziehbar, aber auch für den Ausdruck von "fehlender Härte" und eines "mangelnden Gefahreninstinkts" - eine Form der Barmherzigkeit, die sich Europa und Deutschland in dieser Form nicht leisten könne.
Sicher wird man über das Krisenmanagement im Herbst 2015 streiten können, auch über Handlungsspielräume von Politik, mögliche Kontrollverluste und Entscheidungen, deren Folgen man nicht abzuschätzen vermochte. Und doch wird man all die Prämissen, die Schwarz setzt, auch gänzlich anders sehen können. Schwarz suggeriert Eindeutigkeit, wo die Verhältnisse komplex sind. Deutschland ist in der Flüchtlingsfrage - anders, als es die Untergangsszenarien beschwören - nicht der Nabel der Welt. Die Mehrheit beispielsweise der afghanischen Flüchtlinge sucht Schutz in Pakistan oder Iran. Und der Großteil der syrischen Flüchtlinge lebt nicht etwa in Bayern oder im Rheinland, sondern in der Türkei und Jordanien. Die Staaten des globalen Südens haben die große Mehrheit aller registrierten Flüchtlinge aufgenommen. Deutschland und die EU haben in den vergangenen 20 Jahren vieles dazu unternommen, damit Europa eben gerade nicht das Ziel aller globalen Migrationsbewegungen wird, und dafür erhebliche Mittel und massiven Druck insbesondere auf die Länder Afrikas eingesetzt. Ganz so freundlich und naiv-offen, wie Schwarz die europäische Asylpolitik zeichnet, war sie ganz sicher nicht, schon gar nicht für die in den unwürdigen Lagern an den EU-Außengrenzen gelandeten Flüchtenden selbst.
Die Politik Angela Merkels basiert für den Bonner Emeritus auf "mangelndem Gefahreninstinkt"
Die Geschichte der Einwanderung streift Schwarz in groben Zügen - und lässt dabei außen vor, wie lange sich die Bundesrepublik mit Vehemenz dagegenstemmte, ein Einwanderungsland sein zu wollen. Die Ausländerpolitik vor 1989 wollte eben gerade keine wie auch immer geartete "Integration". Sie setzte auf Abschottung und legte die Hürden gerade für diejenigen Migranten hoch, die sich in Deutschland um eine dauerhafte Perspektive bemühten. Seine Deutung der "Generation Brüssel", die Schwarz inzwischen an den Schalthebeln des Politikbetriebs sieht und die schon lange in postnationalen Kategorien die Geschicke der Welt lenke, hat sicher einiges für sich - nur klingt sie bei ihm eher als Irrweg, der letztlich zum Ausverkauf nationaler Interessen führe. Für einen so stark durch die Westbindung geprägten Intellektuellen wie Schwarz ist das doch mehr als erstaunlich.
In seine Kritik bezieht er nicht nur Helmut Kohl, sondern auch dessen ungeliebte "Stieftochter" Angela Merkel, aber auch die deutschen Außenpolitiker wie Joschka Fischer und Frank-Walter Steinmeier mit ein. Am Schengen-Vertragswerk lässt Schwarz kein gutes Haar, und schon gar nicht an der Asylpolitik der EU, deren Grundpfeiler, die UN-Flüchtlingskonvention von 1951 und damit der Rechtsanspruch auf die Prüfung eines Asylrechtes oder befristeten Aufenthaltsrechts, "sich als eine letztlich unhaltbare Einladung zur Masseneinwanderung herausgestellt" habe.
Schwarz macht konkrete Vorschläge, wie die Probleme gelöst werden könnten: Im Zentrum steht die Rückkehr zu einem starken, restriktiven nationalen Asylrecht; also weniger EU, mehr Nation. Er spricht das nicht unmittelbar aus, aber ohne eine umfassende Militarisierung der deutschen Grenzen ist das alles nicht denkbar. Er verneint keineswegs eine humanitäre Verantwortung Europas - dafür schwebt ihm außer einer Politik der geschlossenen Grenzen eine wachsende finanzielle Unterstützung all derjenigen Regionen in Afrika und Asien vor, die die Flüchtenden von ihrer Reise nach Europa abhalten sollten. Kontingentlösungen für besonders betroffene Gruppen und akute Krisen hält er ebenso für sinnvoll wie einen starken Ausbau der Hilfe für internationalen Organisationen, die sich vor Ort um die Versorgung der Flüchtenden kümmern - das sicher ist ein ernsthafter, wenngleich nicht ganz so neuer Vorschlag, der viel für sich hat.
Die Betroffenen erscheinen in Schwarz' angstgepeinigtem Traktat nur als abstrakte "Masse" und als "Flüchtlingsströme", als großes kollektives Problem, nie aber als Individuen mit unterschiedlichen Biografien. Bei ihm klingt es dann so: "Der Massenzuzug von kinderreichen Familien aus vielfach gering qualifizierten Schichten fremder Kulturen in die Sozialsysteme und die Aufnahme von Heerscharen junger Männer aus dem muslimischen Krisenbogen oder aus Afrika, die für die europäischen Arbeitsmärkte größtenteils ungeeignet sind und das wohl auch bleiben werden, überfordert schon heute viele Gemeinden. In der Mehrheitsgesellschaft wächst die Besorgnis, dass den europäischen Eliten die Individualrechte von Migranten wichtiger sind als die Wünsche und Rechte der Bürger in den einzelnen Mitgliedsstaaten." Wer einmal Flüchtlingsheime von innen gesehen hat, weiß, wie wohlfeil ein solcher Satz ist.
Die Rolle der Kirchen jedenfalls taucht in den Überlegungen kaum auf
Dass Schwarz von Barmherzigkeit immer im Gestus der Schwäche spricht, deutet zudem auch auf jenen inneren Konflikt des deutschen Konservativismus hin, der sich bereits seit Anfang der 1990er-Jahre im Umfeld der Debatten um das Kirchenasyl gezeigt hat. Damals hatten einige Gemeinden abgelehnten Asylbewerbern Unterschlupf gewährt, weil die Asylverfahren offenkundig fehlerhaft waren. Der Konflikt ging tatsächlich ans Eingemachte, und auch viele, die in anderen weltanschaulichen Fragen weiterhin auf Seiten der Union standen (und stehen), fühlten sich doch damals von der bürokratischen Kühle befremdet. Die Kontroverse um das Kirchenasyl markiert eine Sollbruchstelle im Verhältnis der Kirchen zum Staat. Standen die Kirchen außerhalb des Rechts? Wann gebot eine staatliche Politik, die ganz offenkundig nicht alle Fakten berücksichtigte, eine Form der Opposition, die den Flüchtenden Zeit und Öffentlichkeit verschaffte, ihren Fall noch einmal neu zu verhandeln - oft übrigens dann mit dem Ergebnis, dass es den Behörden tatsächlich an rechtsstaatlicher Sorgfalt gemangelt hatte. Die Auseinandersetzung um "den anderen" berührte offenkundig auch solche Gemeindemitglieder, die sich sonst nicht an der Spitze der Protestbewegung fanden.
Von hier aus führt eine wichtige Spur zur Geschichte der Hilfe, wie wir sie an vielen Orten im Herbst 2015 erlebten und die so manchen eher konservativen Bischof zum leidenschaftlichen Streiter für eine liberale Flüchtlingspolitik und scharfen Kritiker der CSU werden ließ. Die Kirchen jedenfalls tauchen in Schwarz' Überlegungen kaum auf. Das mag angesichts seiner kritischen Analyse einer "liberalen" Flüchtlingspolitik auch Teil vornehmer Zurückhaltung sein - und doch könnte man den Begriff der "Barmherzigkeit" und der "Solidarität" auch ganz anders buchstabieren, als dies der Bonner Emeritus macht. Man staunt jedenfalls nicht schlecht, wie vehement diese konfessionellen Verbindungslinien als wichtige Inspirationsquelle des deutschen Konservativismus gekappt worden sind. Was nur, mag sich mancher deshalb leicht irritiert fragen, ist aus den deutschen Konservativen geworden?