Michail Chodorkowskij:Der neue Dekabrist

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Michail Chodorkowskij stilisiert sich als Erbe adeliger Zaren-Gegner. Seine Botschaft: Beraubt und eingekerkert bin ich noch viel gefährlicher.

Daniel Brössler

In einem Brief aus dem Gefängnis hat Michail Chodorkowskij einmal geschrieben, großer Reichtum mache "nicht automatisch frei". Wer in Russland wäre berufener, das zu beurteilen? Chodorkowskij ist schließlich jener Mann, der das Büro im Glaspalast seiner Ölfirma mit einer Zelle im Moskauer Untersuchungsgefängnis "Matrosenruhe" tauschen musste und dessen Vermögen von 15 Milliarden Dollar nach eigenem Bekunden auf "fast null" zusammengeschrumpft ist.

Es darf als sicher gelten, dass sein Schicksal besiegelt war, als im Kreml die Überzeugung reifte, zusammen mit seinen Milliarden sei der Mann entschieden zu gefährlich. Ein Irrtum, wie der einstige Oligarch nun zu beweisen sucht: Beraubt und eingekerkert, lautet seine Botschaft, bin ich noch viel gefährlicher.

Chodorkowskij hat die Schlacht von Anfang an auch als intellektuelle Herausforderung begriffen und als solche geführt. Im Gefängnis verwandelte er sich in einen Autor politischer und gesellschaftskritischer Essays, in denen er unter anderem die Auffassung vertritt, die "Tyrannei des Besitzes" sei grausam.

Im Hungerstreik

Spöttisch dankt er seinen Befreiern, die aus ihm einen "verwandelten Menschen, eine normale Person" gemacht haben. In Wahrheit aber lebt Chodorkowskij längst im vollen Bewusstsein seines neuen Kapitals, namentlich seines Martyriums. Provozierend lobt er das Schicksal, das ihm seine Peiniger bereitet haben. "Das Gefängnis ist auf seine Weise für mich zur Befreiung geworden. Von der Last unnötiger Verpflichtungen, von trüben Irrtümern und dummen Vorurteilen", schrieb er in einer seiner aus dem Gefängnis geschmuggelten Erklärungen.

Derart befreit, kämpft er mit den ihm zur Verfügung stehenden Waffen: Als sein Partner und Mitgefangener Platon Lebedew in Isolationshaft genommen wurde, trat Chodorkowskij in einen Hungerstreik. Er weiß, dass im Volk immer noch das Bild des nimmersatten Milliardärs überwiegt, und das will er zerstören.

Im Schlusswort seines ersten Prozesses dankte Chodorkowskij seiner Frau, "der wirklichen Frau eines Dekabristen". Offenkundig ist es die Tradition eines Sergej Wolkonskij, in der Chodorkowskij sich sieht. Fürst Wolkonskij zählte im Dezember 1825 zu den Führern des gescheiterten Aufstandes gegen Zar Nikolaus I. Im ersten Schauprozess Russlands schuldig gesprochen, wurden ihm damals seine Adelstitel und die Verfügungsgewalt über seine Besitztümer genommen.

Zunächst nach Nertschinsk, ein Nest an der Grenze zu China, verbannt, begann er ein Dasein, das auch er als eine Art Befreiung verstand, als eine Rückkehr zum ursprünglichen, bäuerlichen Leben. Schließlich wurde er als "Bauernfürst" verehrt.

"Im Gefängnis ein Politiker zu werden - das ist sehr russisch. Das Vertrauen des Volkes kann man nur in der Rolle des Opfers gewinnen, und das verstehe ich", bekannte Chodorkowskij gerade in einem Interview mit der SZ ( SZ vom 10. September), in dem er die Vision eines demokratischen und freieren Russland entwarf. "Die Mehrheit des Volkes versteht, dass es zynisch für private Zwecke missbraucht wird, die nichts mit der nationalen Entwicklung zu tun haben", beteuerte er darin.

Der Dekabrist Wolkonskij formulierte es einst ganz ähnlich: "Verlogenheit. Dies ist die Krankheit des russischen Staates. Verlogenheit und ihre Schwestern Zynismus und Heuchelei." Die Zeilen entstanden nach Wolkonskijs Rückkehr aus der Verbannung. Sie hatte 30 Jahre gedauert.

© SZ vom 14.9.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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