Melnikow-Konzert:Beschleunigung auf einen Abgrund hin

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Der Pianist Alexander Melnikov spielt Schubert, Brahms und Schostakowitsch, das ist ein herber Parcours. Denn es geht auch um die Frage, ob der Irrsinn der Welt überhaupt noch zu bändigen ist.

Von Reinhard J. Brembeck

Der Mensch, der Raum, das Instrument. Pianist Alexander Melnikov ist immer neugierig und immer von einer leisen Unrast getrieben. Melnikov sieht so brav aus wie ein Jesuitenschüler, aber hinter dieser Maske verbirgt sich ein Musiker, dem seine überwältigende Virtuosität nicht immer genügt, der sich auch nicht immer mit der möglichst deutlichen Umsetzung des Notentextes begnügt. In diesen seltenen Momenten bricht in Alexander Melnikov etwas verzweifelt Anarchistisches durch. Mal beschleunigt er auf einen Abgrund hin, mal ziseliert er groteske Klangfratzen, mal donnert er wie einer der großen alten Klaviervirtuosen der romantischen Schule. Aber immer hat sich Melnikov gleich wieder im Griff, er kehrt zurück zu der ihm eigenen Eleganz und Distanziertheit. So, als würde er französische Impressionisten aufführen, Debussy, Fauré oder Dutilleux.

In München aber stehen Franz Schuberts "Wanderer-Fantasie", die späten Fantasien von Johannes Brahms und die erste Hälfte von Dmitri Schostakowitschs "Präludium und Fugen" auf dem Programm. Das ist ein herber Parcours. Obwohl all diese Stücke eine wahnwitzige Virtuosität verlangen, ist hier mit Virtuosität kein Preis zu gewinnen. Denn sie ist immer nur das Vehikel, um kompliziert gedachte Klangfiguren verständlich zu machen.

So geht Schubert in jedem der vier Sätze seiner "Fantasie" vom gleichen, rhythmisch pochenden Thema aus. Das ist absolut singulär, das Konzept geht aber nicht völlig auf, weil sich ein klassisches Motiv nie ohne Substanzverluste im Schnellen und Langsamen, als Scherzogehüpfe und Fugenthema gebrauchen lässt. Das Motiv ist deshalb nicht individuell, sondern nur ein rhythmisches Klopfen, also etwas Vormusikalisches. Deshalb kann Schubert dieses Motiv auch nicht weiterentwickeln und flieht immer ganz schnell in rasante Girlanden, Tonzerstäubungen oder Klanggischt.

Das klingt in der halligen Allerheiligen-Hofkirche nicht dürr artistisch, sondern wundervoll raumgreifend. Zumal auch der grandios intonierte Fazioli-Flügel selbst in der Höhe nie metallisch schrill klingt, sondern warm und weich. Die Tiefen sind klar und verlockend dunkel, sodass die Mittellage, die auf modernen Flügeln oft undurchhörbar massiv klingt, sich mühelos gegen die Außenstimmen behaupten kann.

Die Eigenart des Instruments kommt sowohl diesem Programm mit seinen vertrackten Stimmkombinationen und Motivdurchkreuzungen entgegen als auch Melnikovs Ästhetik. Der Pianist will in den fugierten Passagen barocke Klarheit. Aber er will diese Klarheit nicht immer und nicht zu jedem Preis. Er will immer wieder, gerade in den Brahms-Fantasien und auch in den Akkordblöcken bei Schostakowitsch, eine dunkle und angeraute Kompaktheit, in der sich Reibungen und Störungen untergründig auswirken, anstatt grell herauszustechen. Melnikov beherrscht aber auch alle Schattierungen zwischen diesen beiden Extremen, sodass er sie, wenn nötig, bruchlos miteinander verbinden oder auch schroff gegeneinanderstellen kann.

So entsteht der Schostakowitsch-Zyklus als ein zwischen Romantik und Sachlichkeit zerrissener Kosmos. Er ist zugleich monumental und zerbrechlich, grotesk und gefühlsselig, aggressiv und mimosenhaft. Diese kurz nach Johann Sebastian Bachs 200. Todestag 1950 entstandene Musik ist bei Melnikov das unüberhörbar verzweifelte Eingeständnis, dass ein Komponist nach dem Zweiten Weltkrieg, und anders als der in seinem Kunst- und Gottvertrauen noch unerschütterte Bach, trotz aller Meisterschaft nicht mehr dazu in der Lage ist, den Irrsinn der Welt durch seine Klangerfindungen zu bändigen und ihm einen Sinn zu geben. Letztlich, so Melnikovs fatalistisch düsteres Fazit, versagt selbst die Musik vor dem heute alltäglichen Schrecken.

© SZ vom 21.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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