Meister der Fotografie:Nur ein Moment

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Henri Cartier-Bresson entwickelte seine ganz eigene Philosophie: Seine Bilder sollten den einen, wesentlichen Augenblick festhalten. Den porträtierten Menschen trotzte er so manches Geheimnis ab.

Von Joseph Hanimann

Die Geduld des Malens an der Staffelei war seine Sache nicht. Wohl aber, diese Geduld abzufotografieren. In einem Porträt, das Henri Cartier-Bresson 1944 von Henri Matisse machte, ist sie in Gestalt eines massiven Rückens zu sehen. Der Maler sitzt an der Staffelei, ihm gegenüber sein Modell Micaela Avogadro. Er kehrt uns den Rücken zu. Sein Schlafrock, der den Körper des schon älteren Mannes umhüllt und der mit seinem molligen Stoff dicke Falten wirft, bringt die zugleich geistig konzentrierte und körperlich geballte Spannung des künstlerischen Schöpfungsakts zum Ausdruck. Henri Cartier-Bresson hat dieses Foto 1952 in sein Buch "Images à la Sauvette", in der englischen Ausgabe "The Decisive Moment", aufgenommen. Matisse entwarf den Einband dafür. Als eine "Bibel für die Fotografen" bezeichnete der Amerikaner Robert Capa später dieses Buch.

Ursprünglich wollte Cartier-Bresson Maler werden. Dann entdeckte er die Kamera

Die Malerei war das Gebiet, dem der 1908 geborene Cartier-Bresson in seinen jungen Jahren sich zunächst zuwandte. Als Achtzehnjähriger lernte er bei André Lhote im Pariser Montparnasse-Viertel, nach der Regel der "Goldenen Zahl" zu zeichnen. "Ich hatte immer eine Leidenschaft fürs Malen", schrieb er im Buch "The Decisive Moment". Das richtige Sehen habe er aber erst durchs Objektiv seines Fotoapparats gelernt: Dank ihm "hat sich meine Welt erweitert und mit den Ferienbildern war es vorbei". Dieser Apparat war eine Leica 24 x 36, ein kleines Gerät, 1932 erworben, das man in die Tasche stecken konnte und das der Fotograf fortan immer bei sich hatte.

Die Begegnung mit den Surrealisten und die ersten Reisen nach Westafrika, nach Spanien und Italien hatten dem jungen Cartier-Bresson klar gemacht, dass sein Talent eher nach einer Kamera als nach einem Pinsel verlangte. In den aus einer Ladenvitrine, einem Hinterhof oder auf offener Straße erhaschten Wirklichkeitsfetzen wurde jener "entscheidende Moment" fixiert, den Cartier-Bresson zu einem Zentralbegriff für seine Kunst machte. Es war seine Variante der von den Surrealisten entwickelten Theorie der Begegnung: das Zusammentreffen von einander fremden Dingen in einem flüchtigen Augenblick, der sie in eine Art höheren Realitätszustand hob und sie von ihrem Kontext abschnitt.

Ein 1933 in Valencia aufgenommenes Bild zeigt einen Knaben vor einer Mauer mit schlenkernder Armbewegung und seltsam nach oben verdrehtem Blick, als würde er in Ohnmacht fallen. In Wirklichkeit hat er mit dem Kopf gerade einen - im Bild nicht sichtbaren - Ball weggekickt. Darin liegt laut Cartier-Bresson der "entscheidende Moment": Er zeigt nicht das Ereignis, sondern die Spur eines gerade passierten oder noch kommenden Ereignisses. Die Figuren und Objekte mussten die jeweilige Situation in sich tragen. Nie war der Fotograf aber bereit, den Bildausschnitt nachträglich zu diesem Zweck abzuändern. Der Bildrahmen musste jener des aufgenommenen Bildes sein und als Beweis dafür ließ der Fotograf oft den schwarzen Rand vom Negativ stehen.

Wie einst von der Malerei ließ Cartier-Bresson sich auch vom Kino anziehen. Er arbeitete nach 1936 an mehreren Filmen mit, als Regieassistent von Jean Renoir, Sohn des impressionistischen Malers Auguste Renoir. Auch davon wandte er sich aber wieder ab, Geschichten erzählen konnte und wollte er nicht. Sein Blick auf die Welt sei eher der eines Insektenforschers, gestand er. Interessant war für ihn der Gegenstand in seiner Bewegungslosigkeit - genauer: in der suspendierten Bewegung. Deshalb fotografierte er kaum Landschaften, sondern immer wieder Menschen in allen möglichen Situationen. "Mich drängt es zum Flüchtigen, die Landschaft kann warten, sie hat die ganze Ewigkeit vor sich", sagte der immerfort Ruhelose. Menschen am Wasser beim ersten Urlaub in den Dreißigerjahren, Stadtalltag, Arbeiterversammlungen, Kriegsunglück, Kinderspiele, Volksaufläufe, Intimszenen sind die Sujets, immer ein bisschen befremdlich, indem das Dargestellte vor einem rätselhaften Hintergrund zu schweben scheint. Das zeichnet auch die Fotos von historischen Figuren aus, die aus der von Cartier-Bresson mitbegründeten Bildagentur Magnum um die Welt gingen. Und es prägt seine Malerporträts.

Einige Maler kannte der Fotograf persönlich seit den Vorkriegsjahren. Mit Alberto Giacometti verband ihn eine lange Freundschaft, und Cartier-Bressons Bild von Giacometti auf der Straße im Regen mit über den Kopf gezogenem Mantel ist eine Ikone geworden. 1944 fuhr der Fotograf im Auftrag des Verlegers Pierre Braun für eine Serie von Künstlerporträts nach Südfrankreich und besuchte die Maler in ihren Ateliers, darunter Henri Matisse und Pierre Bonnard. "Bei Matisse setzte ich mich ganz still in eine Ecke und bewegte mich nicht", berichtete er später, "wir sprachen nicht, und es war, als ob wir füreinander nicht existierten." So entstanden die berühmten Aufnahmen von Matisse mit Wollmütze und Schlafrock neben dem offenen Taubenkäfig, von dessen Gitterstäben aus die Vögel wie leibhaftig gewordene Scherenschnittfiguren auf den Künstler im Lehnstuhl herabblicken. Als "Aushorchen der inneren Stille eines einverstandenen Opfers" bezeichnete Cartier-Bresson die Porträtfotografie. Sie müsse wie eine offene Frage sein, "und die Antwort kommt beim Abdrücken".

Dadurch werden die unterschiedlichen Charaktere der Porträtierten sichtbar. Abgebildet ist der körperlich füllige Matisse meistens sitzend, wie ein in sich ruhendes Massiv von Gestaltungskraft, steht der schlanke Pierre Bonnard mit Randmütze, Rundbrille und oft dickem Schal um den Hals in seinem Refugium von Le Cannet wie ein gestrecktes Fragezeichen vor uns. Seine introvertiert wirkende Erscheinung dürfte den Fotografen nicht weniger fasziniert haben.

Doch das endlose Fragen des immer offenen Auges hinter dem Objektiv wurde Cartier-Bresson selber manchmal zu viel. Ums Jahr 1970 erklärte er überraschend, die Fotografie interessiere ihn nicht mehr. Stundenlang konnte er während der letzten Jahrzehnte seines Lebens in den Museen sitzen und zeichnen. Im Anhäufen kurzgestrichelter Figuren auf dem Blatt wollte er sich von der Spannung der "entscheidenden Momente" beim Abdrücken erholen, durch das er den Porträtierten so manches Geheimnis abtrotzte.

© SZ vom 13.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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