Max Klinger-Ausstellung in Leipzig:Mehr Bein als Strumpf

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Nazi-Liebling, Lüstling, Revolutionär: Max Klingers Werke lösten schon viele Skandale aus. Eine Schau in Leipzig zeigt sie in aller Offenheit.

Von Till Briegleb

Max Klingers Kreuzigungsszene dürfte in Polen oder Russland wohl auf Widerstand stoßen - so wie einst in Deutschland. Denn was ist da auf Golgatha zu sehen? Jesus nur am Bildrand an ein schiefes Balkenkreuz genagelt, splitternackt (und in einer großen Vorstudie sogar mit leicht erigiertem Fortpflanzungsorgan). Hinter Maria Magdalena im roten Kleid, die das Zentrum beherrscht, wie sie gerade im Liebesschmerz in Ohnmacht fällt, kommen sich zwei vollkommen unbekleidete Männer mit dem Unterleib entschieden nahe. Und ein schmucker Soldat wirft lüsterne Blicke ins Dekolleté einer Edelfrau.

In Ländern, wo der Blasphemievorwurf gegen die Kunst eingesetzt wird, wäre dieses erotische Monumentalgemälde wohl immer noch ein Skandal wie 1891 in München, als die "Kreuzigung Jesu" erstmals ausgestellt wurde. Danach musste Klinger mit "Ochsen- und eigener Galle" einen Hosenlatz über Jesus Schambereich malen - der Gott sei Dank wasserlöslich war. Denn so lässt sich in der großen Ausstellung zu Max Klingers 100. Todestag in seiner Geburtsstadt Leipzig wieder unzensiert studieren, warum dieser vielfach begabte Künstler erst als Revolutionär angefeindet berühmt, dann mit dem Aufkommen neuer Kunstformen als kitschiger Reaktionär und "Makulatur" geschmäht wurde, woraufhin ihm die Begeisterung der Nazis für seine nackte Todessymbolik den verdienten Nachruhm in BRD und DDR verwehrte.

Kurz: Max Klinger ist immer noch zu entdecken. Als früher Erkunder des Trieblebens und des Unterbewussten, als Ouvertüre zum Surrealismus und Sinnstifter des fantastischen Comics, als Vorzeichner eines sozialkritischen Realismus wie als Saatbauer des Jugendstils. In dieser sächsischen Kunstquelle schlummert so viel Inspiration, dass es bis heute reicht. Oder sehen nicht viele seiner Szenen-, Wesen- und Motiverfindungen aus wie Entwürfe zu Animationsfilmen oder Sci-Fi- und Fantasy-Blockbustern, nur in enigmatisch?

Am berühmtesten sind Max Klingers 14 grafische Epen, fantastische Erzählungen ohne Worte, deren Symbolik sich aus alltäglichen Dingen befreit, wie einem Handschuh oder einem Zelt, um die zwei bekanntesten Traumgeschichten Klingers zu nennen. Die eine, die ihn 1878 noch als Student berühmt gemacht hat, beginnt auf einer Berliner Rollschuhbahn, wo eine Dame ihren Handschuh verliert, und endet mit dem Diebstahl dieses erotisch konnotierten Kleidungsstücks durch ein Flugwesen, das an ein Pterodactyl erinnert.

Die bei weitem umfangreichste und auch letzte "Graphic Novel", die er 1914 beendete, ist das in Leipzig vollständig ausgestellte Opus XIV "Das Zelt", das vor dem Corona-Lockdown auch in der Max-Klinger-Ausstellung der Neuen Pinakothek mit vielen anderen grafischen Werken zu sehen gewesen ist, die leider aus "konservatorischen Gründen" nicht verlängert werden konnte. Dieses verschlungene Lustmärchen hat seinen Ausgang vor einer Jurte in einer leeren Vorgebirgslandschaft und verzweigt sich dann über 46 Radierungen in eine multierotische Odyssee, die Homer an Bild- und Triebkraft in den Schatten stellt.

Lächerlich ist nicht die Lustnatürlichkeit Arkadiens, sondern der Heiland

Im verklemmten Kaiserreich war Klingers Fantasie natürlich ein Dauerskandal, "widerlicher Schmutz", wie konservative Kritiker schäumten. Zumal er sich auch vom Sozialrealismus französischer Autoren wie Zola und Flaubert inspiriert in seinen "Dramen" explizit mit den Schattenseiten deutscher Herrlichkeit beschäftigte. Mitfühlend zeichnete er die Tragik der Prostitution, malte sich eine Revolution aus, die er mit ihren Helden und ihren Ängstlichen belebte, und radierte akribisch das Berlin der engsten Hinterhöfe als Kulisse des Elends. Mit dieser ehrlichen humanistischen Zugewandtheit hat Klinger unter anderem Käthe Kollwitz zu ihrem Werk animiert.

Speziell dieser prägende Einfluss auf die Stimme der Armut, der bereits beim letzten Rehabilitationsversuch Klingers zu seinem 150. Geburtstag 2007 in Köln und Aachen thematisiert wurde, bildet ein zentrales Kapitel der Leipziger Schau, dazu beleuchtet sie auch das konstruktive Verhältnis Klingers zu Gustav Klimt und Auguste Rodin. Ebenso zeigt die Schau seine inspirierende Rolle für so unterschiedliche Künstler wie Max Ernst, Giorgio de Chirico oder Edvard Munch in Gegenüberstellungen. Doch eröffnet wird diese beeindruckende Würdigung im Museum der bildenden Künste durch die Überwältigung des Klinger-Saals.

Rund um das verschmitzte Monument des halbnackten Beethoven aus diversen Marmorsorten und Metall (zur Zeit seiner Entstehung auch das ein akademischer Skandal) versammeln sich hier Schlüsselwerke der Opulenz, in der Klinger seine Themen von Lust und Sterben darstellte, wenn er zu Meißel oder Pinsel griff. Gegenüber der Kreuzigungsszene ist die Dauerleihgabe aus dem Wiener Belvedere, "Christus im Olymp" von 1897, der zwingendste Verweiler. Ein goldener Jesus begleitet von vier Frauen, die sein Kreuz tragen, steht im starken Kontrast zu einer orgiastischen griechischen Götterwelt der Nacktheit und Possen und über einem Fries düsterer Erotik und Gewalt, der verdrängtes Triebleben zeigt.

Dass in dieser monumentalen Komposition der Heiland und nicht die Lustnatürlichkeit Arkadiens das lächerliche Element darstellt, haben Klingers Zeitgenossen sehr wohl verstanden - mit Begeisterung wie schäumender Ablehnung solch einer "abstoßenden Gemeinheit". Denn dass Max Klinger bei aller Besessenheit für mythologische Verschlüsselung nichts ernsthaft heilig war, außer dem Eros, das galt in der Moral der Lüge und Vertuschung seiner Zeit natürlich als zutiefst unmoralisch. Aber der daraus resultierende Stachel des Widerspruchs treibt diesen manischen Fantasten an zu immer neuen Bildüberraschungen, die grundiert sind von frechem Zorn gegen die Doppelmoral und Fantasielosigkeit seiner Epoche.

Klinger übersetzte den Schlaf und die Träume in die Wirklichkeit

Ob er eine Berliner Villa in mythologischer Freizügigkeit ausmalt oder den Tod auf einem großen Ölgemälde in einen See urinieren lässt, ob er die Frauen der Ariadne auf Naxos mit Hunden kopulierend zeichnet oder Partei für eine unverheiratet Schwangere nimmt, die von hochmütigen Bürgersfrauen zur Schande verurteilt wird, immer kämpft Klinger an gegen die Arroganz sittlicher Argumente und moralischer Verurteilungen. Unter anderem unterstützt und beseelt von seiner ersten Frau, der österreichischen Feministin und Autorin Elsa Asenijeff.

Doch dieses kritische Werk ist über seine Freizügigkeit hinaus begeisterungsstiftend, weil Klinger ein nie versiegendes Talent zu assoziativer Originalität und poetischen Ausmalung besaß und kultivierte. Er blieb auch in der symbolhaftesten Darstellung einem feinen Realismus verpflichtet, der winzige Details und Nebenszenen erfand, die oft bedeutungsvoller wirken als der zentrale Gegenstand seiner Geschichten. Er war der Übersetzer des Schlafs in Wirklichkeit.

Denn nur im sprachlosen Träumen kommen diese mythologischen Verwandlungen der Wahrheit nahe. Oder wie Klinger es beschrieb: "Beim kleinsten Dreckzipfel von Wort geht mir die Illusion, die ich mit viel Kunst zusammengedröselt habe, flöten. Was dabei herauskommt, ist wie ein Damenstrumpf, wo's Bein raus ist. Und das Bein ist doch die Hauptsache."

Diese Hauptsache, Klingers lebenslange Obsession mit dem Rätsel der Lust und ihren Symbolen, wird in dieser prächtigen farbenfrohen Ausbreitung in Leipzig zu Entdeckung eines radikalen Freigeists, der auch hundert Jahre nach seinem Tod kaum gealtert erscheint. Und der nun hoffentlich endlich auf den Rang seiner Freunde jener Jahre wie Klimt, Rodin, Johannes Brahms oder Arnold Böcklin gerückt wird, als "Klinger im Olymp", der immer sein eigenes Kreuz trug.

Klinger 2020 . Museum der bildenden Künste Leipzig, bis 16. August 2020.

© SZ vom 13.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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