Maarten 't Haart: "Der Nachtstimmer":Im Spektrum

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Ständig auf Abwegen: Barockorgel in der Amsterdamer Kirche Oude Kerk. (Foto: All mauritius images/mauritius images / Olga Gajewska)

Der wilde Erzähler Maarten 't Haart und sein Roman "Der Nachtstimmer" über ein göttliches Instrument in der verfluchten holländischen Provinz.

Von Kristina Maidt-Zinke

Wenn der Romantitel "Der Nachtstimmer" im Kopf hartnäckig zu "Der Nacktstimmer" mutiert, dann dürfte das am Ruf des niederländischen Schriftstellers Maarten 't Hart liegen, der seit jeher eine Neigung zum Skurrilen pflegt und sich mit fortschreitendem Alter immer mehr Narrenfreiheit gönnt. Zu seinem 75. Geburtstag vor zwei Jahren, als bei uns der herrlich schräge Erzählungsband "So viele Hähne, so nah beim Haus" erschien, kam in den Niederlanden dieser Roman heraus. Die deutsche Fassung erreicht uns mitten im "Jahr der Orgel", und sogar mit passendem Cover: Nichts gegen das sattgelbe Kornfeld auf der Originalausgabe, aber der Tasten-Engel vom Genter Altar trifft die Sache besser.

Allerdings muss der Ich-Erzähler, als Orgelstimmer ein Meister seines Metiers, kein gotisches Instrument bearbeiten, sondern eines aus dem Barock und eines aus den Fünfzigerjahren. Auch schmückt ihn, anders als Jan van Eycks geschlechts- und flügellosen Himmelsmusikanten, weder üppiger Haarwuchs noch ein prächtiges Gewand: Vielmehr wird er wegen des frühen Kahlschlags auf seinem Schädel oft boshaft gefragt, ob er vergessen habe, seine Badekappe abzunehmen. Und um an Engstellen zwischen den Orgelpfeifen nicht steckenzubleiben, übt er sein Handwerk bisweilen in Unterwäsche aus, also beinahe nackt. Zum "Nachtstimmer" wird er, wenn der Tageslärm rings um die Kirche zu laut ist. Denn Gabriel Pottjewijd besitzt ein extrem feines Gehör. Und weitere spezielle Eigenschaften, die ihn zu einer Art Nerd des Analogzeitalters machen.

Seinen Herkunftsort Maassluis nennt 't Hart nicht, man erkennt ihn trotzdem wieder

Wieder hat Maarten 't Hart, selbst passionierter Amateur-Organist, die Geschichte eines Sonderlings und Außenseiters mit eigenem Lebensstoff unterfüttert. Hier führt das dazu, dass der Autor seinen Herkunftsort, das südholländische Hafenstädtchen Maassluis, in der Rolle eines Fremden noch einmal besichtigt, und zwar in den späten Achtzigern des vorigen Jahrhunderts. Die Stadt wird nicht beim Namen genannt, doch vollkommen kenntlich gemacht, von der Schiffswerft "De Haas" über das Hafenfest "Furieade" bis zur Groote Kerk mit ihrer Barockorgel, die von Rudolf Garrels erbaut wurde, einem Schüler des berühmten Arp Schnitger.

Als Krankheitsvertretung für den angestammten Stimmer dieser Preziose hat man Pottjewijd engagiert, der als Fachmann für Schnitger-Instrumente sogar schon in Portugal und Brasilien tätig war. Doch Maarten 't Hart erzählt weder von jenen Reisen noch davon, wie es eine Schnitger-Orgel, in 61 Kisten verpackt, einst nach Südamerika verschlug. Stattdessen lässt er eine brasilianische Femme fatale namens Gracinha auftreten, die als Kapitänswitwe in Maassluis gestrandet ist, und ersinnt eine kuriose Liebesbeziehung zwischen der cholerischen Schönheit und dem Eigenbrötler von fünfzig Jahren, dem sie auf den spärlich behaarten Kopf zusagt, dass sie ihn "unsexy" findet.

Auch Gabriel ist verwitwet, seine ostfriesische Frau Lore kam ums Leben, als zwei niederländische Regionalzüge vom Typ "Blauer Engel" im Jahr 1980 bei Winsum zusammenstießen. Davon berichtet der Mann mit dem Engel-Vornamen gleich zu Beginn, anlässlich seiner komplizierten Reise von Heiligerlee bei Groningen nach Maassluis, auf der außerdem die Zugtypen "Hundekopf" und "Mausenase" zum Einsatz kommen.

Er bekennt, sich brennend für Züge und Straßenbahnen zu interessieren, "wie viele Männer, die klassische Musik lieben", was illustriert wird durch eine Anekdote über den Lokomotiven-Fan Antonin Dvořák und dessen Schwiegersohn Josef Suk, den er als Komponisten besonders schätzt. Dann staunt er über die Hässlichkeit des Rhein-Maas-Deltas, über das seltsame Gebaren der Zugpassagiere beim Aussteigen und über seine Unterkunft, ein Seemannsheim von grotesker Ödnis. Und während er dort, beim Verzehr von "FGK" (Fleisch, Gemüse, Kartoffeln), einer Diskussion der Vereinigung "Schrift und Bekenntnis" über Bileams sprechende Eselin lauscht, zieht er das vorläufige Fazit: "Was für ein Ort, wo bin ich hier in Gottes Namen bloß gelandet?"

Genau das fragt sich der Leser, wenn der Held, nachdem er die Bibeldebatte und seine eigenen Glaubenszweifel ausführlichst geschildert hat, vor dem Einschlafen einer weißen Ziege gedenkt, die sich in ihn verliebt hatte, als er ein kleiner Junge war, und die er eines Tages mit ihrem Besitzer, dem Bauern Ai Kack, in einer unaussprechlichen Situation beobachtete.

Das Lebensgefühl radikaler Individualisten, die Misstrauen wecken, ist das eigentliche Thema

In was für einem Buch ist man hier bloß gelandet, denkt man, wenn man nach dem Lachanfall wieder Luft kriegt. Und schon geht es weiter, dieses ausufernde Fabulieren, das ständig auf Abwege gerät, mal langatmig bei Details verweilt, mal zwischen makabren, empfindsamen und hochkomischen Assoziationen hin- und herflitzt und sich um Dramaturgie, Spannungsökonomie und sonstige Formfragen nicht die Bohne schert.

Besonders krass fällt das bei dem eingebauten Krimiplot auf, in dem ein mysteriöser Nebenbuhler dem Orgelstimmer nach dem Leben trachtet. Und bei den Dialogen, die oft arg aus der Proportion geraten sind. Auch erfährt man zwar viel über die Technik des Pfeifenstimmens, aber kaum etwas über Aussehen und Klang der Garrels-Orgel. Immer wieder werden Erwartungen unterlaufen - und dann wird man urplötzlich mit zauberhaften Sätzen über Gaslaternen oder Bachs erste Triosonate entschädigt.

Wollte man den hier vorgeführten Erzählstil pathologisieren, wäre man schnell bei Symptomen jener unangepassten Sonderbegabung, die dem Autismus-Spektrum zugerechnet wird. "Wie kommt es, dass ich alles vollkommen anders empfinde als meine Mitmenschen?" Diese Frage beschäftigt Gabriel Pottjewijd, der Feste und Massenveranstaltungen verabscheut, seit seiner Kindheit. Das Lebensgefühl radikaler Individualisten, die sich jeder Gruppenzugehörigkeit entziehen und deshalb Misstrauen wecken, ist das eigentliche Thema des Romans.

Maarten 't Hart: Der Nachtstimmer. Roman. Piper-Verlag, München 2021. 320 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)

Es betrifft auch die rebellisch-exotische Gracinha, vor allem aber ihre stille Tochter Lanna: Sie geht dem musikalischen Gastarbeiter, der sich nebenbei noch um die moderne Orgel der Konkurrenzkirche kümmert, als Stimmhelferin zur Hand und zeigt dabei ein ungewöhnliches Maß an Ausdauer und Intelligenz. Doch weil sie den Schulbesuch verweigert und lieber schweigt, als Niederländisch zu sprechen, gilt sie in Maassluis als "debil".

Im Porträt der Kleinstadt und ihrer Bewohner wird das Buch zur Abrechnung mit der niederländischen Provinzmentalität, mit Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit, Bigotterie und einem grobschlächtigen Humor, der stets auf "Verarschung" abzielt. Aber der Ich-Erzähler, der überraschenderweise die Norddeutschen als positives Gegenbild zu seinen Landsleuten preist, macht aus seiner eigenen Anfälligkeit für Ressentiments keinen Hehl. In solchen Ambivalenzen offenbart sich die Seelenverwandtschaft zwischen ihm und seinem Erfinder Maarten 't Hart ebenso wie darin, dass er dauernd erklärt, welch ein Blödsinn in der Bibel steht, und dennoch wundersamen Trost in Psalmen und geistlichen Arientexten findet. Und wenn man genau hinschaut, dann hat das, was auf den ersten Blick wie der Monolog eines leicht verrückten Einzelgängers anmutet, am Ende fast so viele Stimmfarben wie die Königin der Instrumente.

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