Französische Literatur:Tyrannei ohne Tyrannen

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Die 1969 geborene französische Schriftstellerin Marie Darrieussecq. (Foto: picture alliance / dpa)

Diese totalitäre Kontrollgesellschaft scheint schon ganz nah: Die dystopische Zukunft von Marie Darrieussecqs Roman "Unser Leben in den Wäldern".

Von Johanna-Charlotte Horst

Dystopien funktionieren besonders gut, wenn sie als Zukunft der Gegenwart plausibel sind. Daher ist die Inkubationszeit dystopischer Romane unberechenbar. Nicht selten erleben sie lange nach ihrem Erscheinen ein Revival. So war Huxleys "Brave New World" das aktuellste Buch der Stunde, als Ende der Neunzigerjahre Sloterdijk und Habermas über die Risiken der Biotechnologie debattierten. Erschienen war der Roman über sechzig Jahre davor. Ähnlich ergeht es seit Trumps Regierungsantritt Orwells "1984". Angesichts der Rede von den sogenannten alternativen Fakten möchten viele noch einmal nachlesen, wie sich das Orwell'sche Konzept des "Doppeldenk" gesellschaftlich auswirkt.

Die Inkubationszeit von Darrieussecqs "Unser Leben in den Wäldern" läuft gegen null. Es wird eine totalitäre Kontrollgesellschaft der nahen Zukunft beschrieben, in der künstliche Intelligenz und Klontechnologie als Machtinstrumente eingesetzt werden. Das ist alles andere als unvorstellbar. KI-Überwachung ist im Sozialkreditpunktesystem der Volksrepublik China bereits im Einsatz und Experimente mit reproduktiver Gentechnologie finden in kaum versteckten Hinterzimmern statt.

Wie düster dies alles ausgehen kann, macht Darrieussecq von Anfang an klar. In einem dunklen Loch unter der Erde im Wald legt ihre Protagonistin Zeugnis ab. Offline und ohne einen Computer zur Hand verwendet sie die exotisch gewordenen Utensilien Bleistift und Papier. Aus der Perspektive einer Überlebenden zu erzählen, ist ein Taschenspielertrick dystopischer Romane. Bedrohliche Zukunftsszenarien lassen sich so ohne besserwisserischen Kultur- und Fortschrittspessimismus vor Augen führen. Das gelingt Darrieussecq in diesem Buch, das der Secession-Verlag in deutscher Übersetzung von Frank Heibert herausgebracht und mit bibliophiler Präzision gestaltetet hat, auf atemberaubend kluge Weise.

Alles was medizinisch und technisch vorstellbar ist, wird in der Zukunft, von der sie erzählt, ohne Zaudern umgesetzt. Klone dienen als Organdepots der Gesundheitsvorsorge. Und Roboter, als Menschen getarnt oder in Gadgets eingebaut, bilden eine technologisch aufgerüstete Stasi. Weder in der eigenen Wohnung noch während der Psychotherapie ist man vor ihnen sicher.

Die poetische Sprache wird zum letzten Kampfplatz des politischen Widerstands

Hannah Arendt hat derartig totale Herrschaftsformen durch das Fehlen konkreter politischer Ziele definiert. Es gehe im Totalitarismus nicht um die Realisierung einer politischen Idee, sondern um "die ständige und sich auf alles erstreckende Beherrschung jedes einzelnen Menschen". Obwohl sich diese Beherrschung tyrannisch anfühlt, übt kein Tyrann sie aus. Alle Macht liegt in den vielen unsichtbaren Händen, die immer und überall ihre Finger im Spiel haben. Dabei verschwindet mit der Privatsphäre auch die Öffentlichkeit als Ort politischen Widerstands. Das absolute Außen bleibt als einziger Ausweg.

Darrieussecqs Erzählerin wird diesen Weg am Ende wählen. Bevor sie sich für das Leben in den Wäldern entscheidet, arbeitet sie als Sexologin. Zum eingeübten Repertoire ihrer Ratschläge gehört: "Entterritorialisieren Sie Ihr Liebesspiel!" Das heißt, man solle es einmal nicht im Schlafzimmer, sondern im Wohnzimmer miteinander versuchen. Bei derlei lauen Tipps kann der therapeutische Erfolg kaum das Hauptziel sein. So dienen die Sitzungen auch vor allem der Datensammlung, denn natürlich hört auch hier der Staatsapparat mit.

Bei verdächtigen Wortkombinationen schlagen die künstlich intelligenten Spitzel Alarm. Da es für emotionale Soft Skills keine fertige Software gibt, müssen die Programme eine Art Herzensbildung durchlaufen. Dafür werden sie mit möglichst vielen emotionalen Assoziationen gefüttert. Diese Aufgabe übernehmen die "Klicker". Je mehr Daten sie einspeisen, desto emotionaler ticken beziehungsweise klicken die Roboter. Für die Doppelbödigkeit rhetorischer Formulierungen bleiben sie allerdings taub. Die poetische Sprache wird damit zum letzten Kampfplatz des politischen Widerstands. Keine unschuldige Pointe für einen literarischen Text.

Auf dem matschigen Untergrund des Waldes bricht die Unterscheidung von Klon und Nicht-Klon zusammen

In ihrer physischen Leistungsfähigkeit sind die Menschen dagegen klar unterlegen, geradezu antiquiert. Obwohl es das Organdepot gibt, leiden viele an einer schweren Krankheit und sterben früh. Es herrscht eine brutale Körperpolitik, die von undurchsichtigen Interessen geleitet wird. Die Klone leben isoliert in "Erholungszentren" und werden dort in einem komatösen Schlaf gehalten. Sie tragen Zahlenreihen als Namen und ihre Schädel sind rasiert. Mit dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben, der auch ein Leser von Arendts Texten zum Totalitarismus ist, lassen sich die Klone als "bloßes Leben" bezeichnen. Eine politische Existenz ist ihnen verwehrt, allein das biologische Überleben wird durch medizinische Vorrichtungen gesichert.

"Unser Leben in den Wäldern" berichtet von der Flucht aus dieser brutalen Sozialisierung der Biologie. Auf dem matschigen Untergrund des Waldes bricht die Unterscheidung von Klon und Nicht-Klon zusammen. Diese Einsicht kostet die Protagonistin ihr Sehvermögen. Ähnlich wie König Ödipus, der sich die Augen aussticht, als er begreift, dass er seinen Vater ermordet und mit seiner Mutter geschlafen hat. Hier stehen die Dinge mindestens so schlimm. Es geht um unser Verhältnis zu Klonen und Robotern, um die Unterscheidung zwischen Natur und fataler Zivilisation. Darrieussecqs Roman stellt ethische Grundsatzfragen. Das Unbehagen daran wirft die Frage auf, was an unserer Wirklichkeit schon heute nicht stimmen könnte, was wir möglicherweise verdrängen, unterschätzen oder übersehen.

Marie Darrieussecq: Unser Leben in den Wäldern. Roman. Aus dem Französischen von Frank Heibert. Secession Verlag, Zürich 2019. 110 Seiten, 18 Euro.

© SZ vom 30.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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