Macht und Ohnmacht:Zweier Zeiten Schlachtgebiet

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Er war gierig nach eiskaltem Bier und üppigem Wildbret: Karl V., 1500-1558. (Foto: N/A)

Er verteidigte die Einheit der Kirche und wurde, gegen seinen Willen, zum Mitbegründer eines Europas der pluralen Wahrheiten: Heinz Schilling schildert das Leben Karls V., des Kaisers, "dem die Welt zerbrach".

Von Thomas Kaufmann

"Er fühlt der Zeiten ungeheuren Bruch ... In seiner Seele kämpft, was wird und war ... Sein Geist ist zweier Zeiten Schlachtgebiet ..." Mit diesen Versen positionierte Conrad Ferdinand Meyer den Reformator Martin Luther zwischen den Zeiten - zwischen Mittelalter und Neuzeit, Tradition und Moderne, Althergebrachtem und Aufbruch in neue Welten. Karl V., dem Kaiser der frühen Reformation, weist der renommierte Historiker Heinz Schilling einen nämlichen Ort zwischen zwei Zeitaltern an: Er war der letzte Repräsentant einer universalen mittelalterlichen Kaiseridee, in dessen Reich die Sonne nie unterging, und er wurde zum Begründer eines neuzeitlichen Hegemonialkonzepts, das an den Interessen eines Einzelstaates orientiert war.

Er verteidigte die Einheit der Kirche und konnte die Spaltung doch nicht aufhalten

Der Verteidiger der realen und spirituellen Einheit der katholischen Kirche wurde - gewiss gegen seinen Willen - zum Mitbegründer eines Europas der pluralen Konfessionen und Wahrheiten. In den circa vier Jahrzehnten seiner Herrschaft verwandelte sich, ja zerbrach ihm jene Welt, aus der er gekommen und zu deren Erhalt er angetreten war. Karl von Burgund, von Habsburg, von Spanien - ein letzter "großer" Karl und zugleich der erste Kaiser - welch eine Ungeheuerlichkeit! -, der abdankte.

Mit seiner Biografie Karls V. schließt der ungemein produktive Berliner Emeritus Heinz Schilling ein Triptychon ab, zu dem seine Lutherbiografie und ein Buch zur Globalgeschichte des Jahres 1517, allesamt in mehreren Auflagen bei Beck erschienen, gehören. Diese Trias ist programmatisch gemeint: Luther und die Religion, Karl und die Entwicklung von Staatlichkeit und Herrschaft und die sich als europäische Expansion vollziehende ökonomische und politische Globalisierung repräsentieren nach Schilling jene Kräfte, durch die die Welt entstand, in der wir heute noch leben. Ohne diese weite Perspektive, so Schillings Ceterum censeo, ist unsere Welt nicht zu verstehen.

Unter den zahlreichen Lutherbiografen ist Schilling der erste, der eine Biografie Karls V. geschrieben hat. Und umgekehrt: Unter den nicht ganz so zahlreichen Karlbiografen ist Schilling der einzige, der Luther biografisch porträtierte. Ähnlich wie schon Altmeister Ranke sieht er beide in einer Art schicksalhaften Symbiose. Die wohl Karl und Luther auf je ihre Weise aufwühlende einzige Begegnung auf dem Wormser Reichstag des Jahres 1521 und der Besuch des triumphierenden christlichen Ritters am Grabe des Ketzers im geschlagenen Wittenberg des Jahres 1547 sind für Schilling Schlüsselszenen universalgeschichtlichen Ausmaßes. In ihnen entschied sich, dass der von Rom verurteilte Mönch am Leben blieb, Karls Vision einer einheitlichen Welt konterkariert wurde und am Ende die Differenz gegenüber dem römischen Glaubensmonopol obsiegte und die Kirchenspaltung, das Plurale und Uneindeutige, zur Signatur der europäischen Neuzeit werden konnte.

Ein wirklich dankbarer Gegenstand für eine Biografie ist der reichlich uncharismatische, zumeist nur durch prunkvolle Inszenierungen, üppige Aufzüge und Empfänge und repräsentative Herrscherporträts wirkungsstarke Karl nicht. In den weit mehr als 100 000 Briefen, die überliefert sind, fällt kaum je ein Wort, das den Menschen, sein Fühlen, Denken und Zweifeln beleuchtete. Selbst bei der Zahl der Bastarde, die er zeugte und nur in Teilen anerkannte und versorgte, blieb jener europäische Monarch, dessen Herrschaftstitel zahlreicher waren als je vor oder nach ihm, hinter vielen seiner Standesgenossen zurück.

So farblos der durch Unterbiss, die Habsburgerlippe, einen vorgezogenen Unterkiefer und frühe Zahnlosigkeit unvorteilhaft anzuschauende Kaiser als Person jenseits seiner Gier nach eiskaltem Bier und üppigem Wildbret auch bleibt, so meisterhaft gelingt es Schilling, ihn als Knotenpunkt der Herrschafts-, Verwaltungs-, Dynastie-, Kriegs-, Entdeckungs- und Wirtschaftsgeschichte des 16. Jahrhunderts zu exponieren. Darstellungstechnisch verbindet Schilling dicht beschriebene Daten der Lebensgeschichte seines Protagonisten wie etwa den Geburts-, den spanischen Krönungs-, den deutschen Kaiserwahl- oder den ersten, den Wormser Reichstag mit ausgreifenden strukturgeschichtlichen Perspektiven grundsätzlicher Art. Nach und nach werden die einzelnen Herrschaftsgebiete und ihre Besonderheiten vorgeführt. Klar arbeitet Schilling heraus, dass sich - entgegen verbreiteter Mythen zur habsburgischen Heiratspolitik - das Riesenreich, das Karl in seiner Person vereinte, der unplanbaren Verkettung unvorhersehbarer Todesfälle verdankte. Sodann wird deutlich, dass das burgundische Erbe, in das er hineinwuchs, nebst Hofzeremoniell, französischer Sprache und humanistisch moderierter Frömmigkeit in der Tradition der Devotio moderna Karls mentale, kulturelle und religiöse Welt der Frühzeit prägte. Doch die Herrschaftstitel, die er in sich vereinte, trieben ihn über die Ziele einer Restitution des Burgunds seines Urgroßvaters Karls des Kühnen hinaus.

Mit der Kaiserwürde wurden umfassende Perspektiven leitend; in seinem Großkanzler Gattinara hatte er bis 1530 einen Chefstrategen des Universalen an seiner Seite. Die Propagandisten der "Burgundy first"-Politik verloren an Rückhalt. Die iberische Hochzeit mit Isabella von Portugal, die er wohl wirklich liebte, als Statthalterin einsetzte, nur selten betrog und in Gestalt eines Tizianporträts mit sich ins Sterberefugium von Yuste nahm, forcierte seine Hispanisierung. Nicht am Ort seiner Geburt und seiner mit zwei lebenslang nahen Schwestern elternlos verbrachten Kindheit - Mechelen -, sondern in Spanien, in einem Hieronymitenkloster, wollte er sterben.

Einzelne Motive prägen Karls Leben und Schillings Darstellung. Dazu gehört der ständige Konflikt mit Frankreich, der Karl durch das burgundische Erbe in die Wiege gelegt war und in Kriegen, Waffenruhen, Friedensschlüssen und erneuten Kriegen seine gesamte Regierungszeit begleitete. Das endlose Ringen um Italien und die Verstrickungen in ein Bündnisknäuel der Mittelmächte begleiteten Karl ebenso wie die immer neue, wechselvolle Bedrohung durch die Osmanen. Mal paktiert der türkische Sultan Suleiman, der Prächtige, mit Franz I. von Frankreich, mal zieht er auf Wien, mal bietet ihm Karl in einem glänzenden Sieg vor Tunis 1535 Paroli - nie aber gelingt ein kathartischer Schlag, der dem christlichen Ritter die Befriedigung verschaffte, als finaler Maurentöter die Reconquista zu vollenden. Sodann bestimmt die auf Familienmitglieder, zumal weibliche, gestützte Herrschafts- und Heiratspolitik das "System" Karls V.: An alle wichtigen europäischen Höfe verheiratete er Tanten, Tochter, Sohn, Schwestern, Neffen und Nichten. Einen Stabilitätsfaktor allererster Güte, jedenfalls bis in die Zeit des von Tragik nicht freien Endes seines Kaisertums hinein, bildete das Verhältnis zu seinem Bruder Ferdinand, des Römischen Königs und Nachfolgers im Kaisertum, der weitaus besser als Karl mit dem komplexen politischen System des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation umzugehen vermochte und dem der epochale Religionsfrieden von 1555, dem sich Karl entgegengestemmt hat, zu danken war.

Er hatte ein Hobby,er sammelte Uhren, war von ihrer Mechanik fasziniert

Das wohl stärkste, die Existenz des Reisekaisers integrierende und ihn persönlich auch tatsächlich zusammenhaltende Motiv war seine Religion. Das Menetekel der Kirchenspaltung, die der Mönch aus Wittenberg provoziert hatte, lag ihm, dem Schutzherrn der wahren, katholischen Kirche, auf der Seele. Die sittliche Verkommenheit der Päpste und römischen Prälaten war Karl, der eine echte Kirchenreform verlangte, eine veritable Anfechtung. Seine Kreuzzugsfantasien gegen die Türken, sein Ringen um die Wiedervereinigung der Konfessionen, sein Kampf für ein Reformkonzil, das diesen Namen verdient, sein freilich auf halber Strecke stecken gebliebenes Werben für einen humanen Umgang mit den "Indios" in der neuen Welt im Geiste Bartolomé de las Casas - all dies waren in Karls Frömmigkeit wurzelnde Handlungsimpulse.

Gegen Ende hin, in der Schilderung des Sterberefugiums in der Extremadura, als Karl noch eineinhalb Jahre, bar jeder herrscherlichen Würde, mit Blick auf den Hochchor der Klosterkirche dem Ende entgegenging, schreibt sich Schilling in Höchstform. Nun wird auch klar: Karl hatte ein Hobby, er sammelte Uhren. Offenbar faszinierte ihn die Präzision der Mechanik; gewiss gab ihm die verrinnende Zeit auch Anlass zur Meditation. Vielleicht aber trösteten ihn die munter tickenden, stetig bewegten Uhren auch darüber hinweg, dass sein Werk gescheitert und sein Leben "zweier Zeiten Schlachtgebiet" gewesen war.

Heinz Schilling : Karl V. Der Kaiser, dem die Welt zerbrach. Biographie. Verlag C. H. Beck, München 2020. 457 Seiten, 29,95 Euro.

© SZ vom 14.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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