Lyrik:Schaukeln im Ebbstrom

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Kundig auch als Dichter und Nach-Dichter: Johann P. Tammen. (Foto: Manto Sillack)

Als Herausgeber der berühmten Zeitschrift "Die Horen" hat uns Johann P. Tammen Literatur nahegebracht. Nun kann man ihn selbst als Dichter und Nachdichter entdecken.

Von Gert Heidenreich

In seiner Parabel "Der Städtebauer" erzählt Bertolt Brecht von einem Wettbewerb im Häuserbau, bei dem die Jury unter den Teilnehmern schließlich auf einen stößt, der lediglich einen Türstock vorweisen kann, prächtig geschnitzt zwar, aber eben bloß ein Türstock. Es stellt sich heraus, dass ihm keine Zeit für seinen Hausbau geblieben war, denn er hatte allen anderen geholfen: hier die Pläne gezeichnet, dort die Statik geprüft, diesem die Fenster, jenem das Dach gezimmert. Am Ende wird ihm der Preis zuerkannt.

Die Geschichte, von Brecht 1945 dem exilierten großen Theatermann Berthold Viertel geschenkt, könnte auch auf den Dichter Johann P. Tammen passen, der von 1994 bis 2011 die interessanteste deutsche Vierteljahrsschrift für Literatur, Kunst und Kritik, Die Horen, herausgegeben und damit ein mehrfach preisgekröntes Arbeitsleben in den Dienst der Dichtung, ihrer transnationalen Verbindungen, zeitgenössischen Strömungen und historischen Texträume gestellt hat. Nicht zu zählen, wem er da zum ersten Mal ans Licht half, wie viele er aus dem Schatten des Vergessens hob, wie oft er uns, als Wegweiser und Nachdichter, mit fremden Literaturen vertraut gemacht hat.

In diesem sorgfältigen, liebevollen Dienst für die anderen lebte der Lyriker Tammen fast wie im eigenen Schatten. Seine Gedichte und Prosastücke erschienen in loser Folge als bibliophile Kostbarkeiten, und wer sie wahrnahm, kannte auch den hohen Rang, den Tammen in der deutschen Poesie einnimmt. Freilich ist er keiner, der in den Parlando-Salons des Litera-turbetriebs auf sich deutet; lieber läuft er mit Freunden über die Deiche seiner friesischen Heimat. Der Poet, nun 75 Jahre alt, hat sich stets leise abgewandt und hinter sein ironisches Lächeln verzogen, wenn andere an die Rampe traten. Dabei wohnt er durchaus in der Welt, bevorzugt aber ihre poetische Gestalt und zieht seine Schlüsse: "Wir werden es schwer haben / weil wirs / nicht leicht nehmen können."

Nun hat der Wallstein-Verlag den Lyriker mit einem Doppelschlag aus der Raritätennische gehoben und in zwei schönen Bänden Tammens Gedichte und seine Nachdichtungen vorgelegt. Endlich, möchte man ausrufen und diese oft dunkel grundierten Dichtungen nicht paraphrasieren, sondern Wort für Wort vorstellen, die expressiven Verse, von melancholischem Humor gefärbt, von Rhythmen und ihren Brüchen getrieben, die man beim lauten Lesen entdeckt. Fast immer ist die Natur, sind Land, Himmel und Meer die Sicht-Anker, Wind, Wolken und Watt.

Das Meer ist "die salzige Liebeslippe"

Die See ist für Tammen das große Metaphernfass, sie ist das "zum Himmel schreiende Großmaul", ein "Geklapper windschief kauender Kammwellenzähne". Das Meer ist "die salzige Liebeslippe", trägt "Brüllkleider", soll "nicht so laut sein". Wenn es sich zurückzieht, "schaukelt im Ebbstrom ein umgestülptes Gedächtnis".

"Hast du die Furchen des Meeres kartiert", fragt sich der Dichter, als wäre eben dies seine Pflicht, und tatsächlich lebt seine Poesie von der Intensität des Registrierens, Beobachtens, Ordnens, während zugleich mit dem Schauen die Verwandlung in poetische Erinnerung einsetzt. Erfahrungen von Außen und Innen sind so miteinander verschnitten, dass jener höhere Grad an Genauigkeit des Blicks entsteht, den Tammens Gedichte uns zumuten und schenken.

Natürlich schreibt er nicht vorbehaltlos, weiß, worauf er anspielt, denn er ist ein Lyrik-Kenner, sieht sich im Gespräch mit zeitgenössischen Poeten, auch mit denen, die vorausgingen und nachleben. Im autobiografischen Text, der dankenswerter Weise in den Band mit aufgenommen wurde, steht klar und deutlich: "Er las und wurde der, der er wirklich war." Rastlos suchte er sich als junger Mann und fand sich in der Literatur. Mit dem Schreiben kam dann die Sprachskepsis: "Was wissen wir kleinlauten Wortwunderwerker von der Beschaffenheit der Wörter, solange sie noch rohköstlich und unbehandelt wie das Dotter im Ei ohne Kenntnis der Schale (...) vor sich hinschlummern?"

Die Reflektion des poetischen Tuns und der Aufenthalt in der einzigen gemeinsamen Weltsprache, der Poesie, haben Tammen unvermeidlich auch zu einem bedeutenden Nachdichter werden lassen, der bei aller Bemühung um fremdsprachige Gedichte weiß, "dass Blessuren beim Übersetzen (...) von Lyrik unvermeidlich sind". Im zweiten Band seiner Werkausgabe, den Gedicht-Übertragungen, lässt sich lesen, wie sensibel und sprachmächtig er solche Blessuren minimiert. Sein luzider Essay im Anhang sei jedem, der sich an Nachdichtungen wagt, als Pflichtlektüre empfohlen.

Mit Brechts Häuser-Parabel gesagt: Johann P. Tammen hat trotz all seiner Hilfe für so viele andere nicht nur einen schönen Türstock gefertigt, sondern ein weitläufiges Haus aus Poesie errichtet, Zimmer mit Meereshorizont, Korridore ins Marschland, Kammern voll Schilf und Wald, Salons, in denen sich Vergangenheit zu Gegenwart wandelt; und in den hellsten Räu-men stehen die Türen offen - da gehen seine Dichterfreunde ein und aus.

Johann P. Tammen: Stock und Laterne. Ausgewählte Gedichte 1969-2019 (Band 1). 256 Seiten. Wind und Windporzellan. Nachdichtungen (Band 2). 231 Seiten. Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 30 Euro.

© SZ vom 22.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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