Lyrik & Luftfeuchtigkeit:Wenn nur das Denken sich legt

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Kerstin Preiwuß misst mit ihren Gedichten nach, wo genau der "Taupunkt" der Sprache liegt.

Von Jörg Magenau

Der Taupunkt bezeichnet die Temperatur, bei der ein Gasgemisch wie Luft vollständig mit Wasserdampf gesättigt ist. Sinkt die Temperatur unter den Taupunkt, wird Luftfeuchtigkeit als von Nebel oder Tau ausgeschieden. Mit der Temperatur steigt auch der Taupunkt. Weil heiße Luft mehr Wasserdampf absorbieren kann, lässt sich mit dem Taupunkt die absolute Luftfeuchtigkeit bestimmen. Der Taupunkt ist also der Gleichgewichtszustand zwischen Kondensieren und Verdunsten, ein physikalischer Balanceakt. Bei der Leipziger Lyrikerin Kerstin Preiwuß, die ihrem vierten Gedichtband den Titel "Taupunkt" gegeben hat, wird daraus ein poetisches Prinzip. Das hört sich so an: "Der Taupunkt ist grausam / und er ist schlicht. / Man sieht ihn nicht / aber empfindet was. / Er schöpft aus sich / und er hat recht." Dieses kleine Gedicht steht exakt im Zentrum des schmalen Buches wie die waagrechte Achse einer Balkenwaage oder wie die Zäsur in der Mitte einer langen, schlaflosen Nacht. Der Band ist symmetrisch aufgebaut. Auf einen kurzen Prolog folgt der durch das Titelgedicht in zwei Teile gegliederte Hauptteil, der mit der Zeitangabe 22 Uhr 58 und 12 Sekunden und dem Vermerk "Gleich Nacht" beginnt. Die Gedichte sind demnach als fortlaufender nächtlicher Monolog zu lesen. Sie umkreisen das Zentrum der Zeit oder den Sättigungsgrad der Reflexion.

Denken, Erinnern und leibliche Gegenwärtigkeit fallen in diesem lyrischen Prozess zusammen, bis die Zeitangabe 09 Uhr 43 und 43 Sekunden, "Gleich Tag", und damit ein letztes Gedicht die Nacht beschließt. Es endet mit den Versen: "Ich versuche Gedanken in die ich mich legen kann/ wie die Sonne spielend in das Wasser scheint / nach der das Wasser unzerbrochen bleibt. // Wie leise sie wirkt, dass ihr Leib es nicht weiß. / Sie begreift das meist und behält wenig bei."

"Leben heißt Liegen auf einem blinden Fleck / von dem aus man alles ganz deutlich sieht."

Grammatikalisch bezieht sich das leise wirkende und wenig behaltende "Sie" auf die Sonne, mit der der Tag beginnt. Es könnte aber auch sein, dass das lyrische Ich sich damit selbst anspricht oder sich in der Sonne spiegelt. Der Balancezustand, zu dem dieses Ich findet, ist zwischen Nichtwissen, Begreifen und Vergessen austariert. Das nächtliche Nachdenken, das sich in diesen zu Zyklen angeordneten, ineinander übergehenden Gedichten ereignet, ist eben kein bewusster Akt der Reflexion, sondern ein Zum-Vorschein-Bringen, das sich im Sprechen vollzieht - und so beginnt der Band auch mit den Zeilen: "Das ist worüber niemand spricht nur weiß / wie's Gräben schlägt in sich um alles."

Zwischen den Gedichten, die sich wie Moleküle zu längeren Ketten verbinden, markieren Sternchen sowohl Trennung als auch Verbindung. Vom Gestus her handelt es sich bei diesen Versen um Anreden, die sich zunächst an "Apnoe", die Schlaflosigkeit richten, später dann an "Meine Liebe" oder an die "Tödin". Doch all das sind Nachtgestalten, die dem sprechenden Ich zugehören. Das Ich und seine Gegenüber, Innenwelt und Außenwelt, Poesie und Physis, Stofflichkeit und Transzendenz, Leben und Tod sind Übergangsphänomene, die, wenn überhaupt, im Dazwischen, im "Taupunkt" eben, aufzuspüren wären. So heißt es programmatisch: "Leben heißt liegen auf einem blinden Fleck / von dem aus man alles ganz deutlich sieht."

Ein besonderer Reiz der Dichtung von Kerstin Preiwuß ergibt sich aus dem Nebeneinander von technischer und emotionaler Sprachebene, wenn sie sich etwa in die "Zellulose der Kindheit" hüllt, den "Schmerz" als "Aggregatzustand" begreift oder behauptet: "immer nur am Leben sein / ergibt doch keinen Sinn nicht mal ne Fließgeschwindigkeit". Auch die Biologie ist nicht fern, wenn Positionen "abgelaicht" werden oder "wir" uns festsetzen "wie Algen an Steinen als Pionierpflanzen". Das Sprechen, das sich hier ereignet, ist nicht zuletzt ein körperlicher, akustischer Vorgang. Auch wenn das sprechende Ich den "eigenen Ton nicht mehr hören" kann, trägt es "ihn überall hin". Sprache ist Leiblichkeit. Sie entsteht aus sich selbst. Wer spricht, hat die Sprache nur geborgt. Das ist dieser Nachtstimme jederzeit bewusst.

Die in zahlreichen Versen zu findende zentrale Metapher ist das Schilf, das als Schraffur zwischen Wasserfläche und festem Land im Übergangsbereich siedelt, wo aus ""Barrieren aus abgestorbenen Zellen" neues Leben wächst. Auch das Schilf gehört zu den Adressaten der Gedichte, die direkt angesprochen werden: "Rede, Schilf, rede!". Schilf nickt, schwankt, flüstert, wartet, ist nie einzeln, sondern viele. Es steht für das Brüchige, Hohle, Undurchsichtige, aber auch für Atmung, Schutz und Lebensraum für Tiere aller Art. So lässt sich auch einer der kleinen Reime, die gelegentlich aufblitzen, als wären es bloße Zufallsereignisse, durchaus auf das Schilf beziehen. Der Zweizeiler beschreibt exakt, was sich in dieser Lyrik ereignet: "Wieviel sich bewegt / wenn nur das Denken sich legt". Genau da aber, wo Bewegung und Ruhe im Gleichklang sind und das Denken sich von seinen Absichten löst, liegt auch der Taupunkt der Sprache, in der die Worte wie Wasserdampf in der Luft enthalten sind. Von da aus kondensieren sie oder schlagen sich nieder als Tau.

Kerstin Preiwuß: Taupunkt. Gedichte. Berlin Verlag, Berlin 2020, 106 Seiten, 22 Euro.

© SZ vom 04.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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