Lyrik aus Ungarn:Nervöse Minute

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István Kemény hat einen Traum: Er möchte ein offenes Fenster sein, offen für Gedanken und Bilder. Am besten ist er, wenn er sich ganz der Imagination anvertraut. Die politische Situation in Ungarn übersieht er dabei nicht.

Von Nico Bleutge

Einmal ein offenes Fenster sein. Für den ungarischen Dichter István Kemény gibt es keinen größeren Traum. Sich im Durchzug bewegen, den Aufprall vor sich haben - bis die Sonne aufwacht und durch die Wolken des Sturms ihren Strahl schickt: "dass sie mich die schattige Wand streicheln ließe, / bevor ich in tausend Stücke zersplitterte." Feste Zuordnungen sind dem 1961 geborenen István Kemény von jeher verdächtig, in seinen Versen liebt er es, im Ungewissen zu streunen, hier auf ein Zauberwort zu warten, dort ein "Zeichen zu setzen, / mit Pisse oder / mit Phantasie". Kemény ist ein Dichter des Gedankens, noch dem unscheinbarsten Vers ist eine Reflexionsbewegung eingeschrieben, die Sprechweisen gegeneinander stellt, Bedeutungen verschiebt oder Sätze in ihr Gegenteil überführt. Diese Technik nutzt Kemény auch, um die Geschichte und die politische Situation in Ungarn zu reflektieren. Ohne je in platte Aussagen zu verfallen, zeigt er die Verschattungen des Denkens und der Biografien und legt ein "interessantes Paradox" nach dem anderen frei.

Nicht alle Verse allerdings haben diesen interessanten Zug. Vielleicht muss man aus der "Midlife-Crisis" nicht gleich ein Gedicht machen. Auch verlieren die vielen Diminutive, die Kemény verwendet, irgendwann ihre ironische Kraft. Denn sie verkleinern nicht nur die Dinge, sie vergrößern auch den Sprecher - nicht immer zu dessen Vorteil. Am stärksten ist István Kemény dort, wenn er sich der Imagination anvertraut: "Vor dir liegt die Minute, / die eine Minute vor dem Wunder. / Schau, sie reicht von hier bis zum Wunder / und vom Wunder zurück genau bis hierhin!" Dank den beiden Übersetzerinnen kann man dieser nervösen Minute nun auch im Deutschen nachspüren.

István Kemény: ein guter traum mit tieren. Aus dem Ungarischen und mit einem Nachwort von Orsolya Kalász und Monika Rinck. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2015. 144 Seiten, 19,90 Euro.

© SZ vom 05.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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