Sensationeller Fund:Tod auf Kredit

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Legendärer Schriftsteller und übler Antisemit: Louis-Ferdinand Céline im Jahr 1932. (Foto: mauritius images / Alamy / ZipLexing)

Céline beklagte im Alter immer wieder den Verlust der Manuskripte aus seinen früheren Jahren. Niemand glaubte ihm. Jetzt sind sie tatsächlich aufgetaucht.

Von Joseph Hanimann

Gram, Obsession und allgemeine Verfluchung war der Grund, auf dem in den späten Lebensjahren Louis-Ferdinand Célines schräge Welteinstellung gedieh. Da passte viel drauf. Deshalb glaubte kaum jemand mehr an die Wahrheit dessen, was der Autor in Briefen und Büchern immer wieder behauptete: dass ihm nach der Befreiung von Paris im August 1944 aus seiner Wohnung auf dem Montmartre alles gestohlen worden sei, Möbel, persönliche Habseligkeiten und vor allem die Manuskripte. Biografen und Forscher hatten sämtliche Hinweise durchkämmt, die nach Célines überstürzter Flucht in jenem Sommer zunächst ins Kollaborateursnest Sigmaringen und dann nach Dänemark Aufschluss über den Verbleib der Papiere hätte geben können. Ohne Erfolg.

Entsprechend hallt nun der Paukenschlag durch die französische Sommerruhe, mit dem die Zeitung Le Monde das Auftauchen von Tausenden Seiten unbekannter Céline-Manuskripte meldete. Zu den entdeckten Dokumenten gehören eine unbekannte Fassung mit offenbar erheblichen Abweichungen des Kindheitsromans "Tod auf Kredit" und 600 Blätter des bisher nur in wenigen Fragmenten überlieferten Buchs "Casse-pipe" ("Kanonenfutter") über die Soldatenzeit des jungen Kavalleristen Ferdinand im Ersten Weltkrieg, das chronologisch den Übergang zu Célines Meisterwerk "Reise ans Ende der Nacht" darstellt. Enthalten sind in den Papieren auch ein weiteres umfangreiches Konvolut über die Zeit des Ersten Weltkriegs unter dem Titel "Londres", das den Roman "Guignols Band" vorwegnimmt, sowie Entwürfe zu anderen Werken, Briefe, Fotos und sonstige Dokumente.

Manches über diesen erstaunlichen Fund, der zweifellos eine Revision der Céline-Ausgabe bei Gallimard notwendig machen wird, liegt noch im Dunklen. Ausgelöst wurde er offenbar durch den Tod von Célines Witwe Lucette Destouches im Alter von 107 Jahren im November 2019. Ein halbes Jahr später meldete sich der Journalist Jean-Pierre Thibaudat, ehemaliger Theaterkritiker der Zeitung Libération, bei Frankreichs berühmtestem Anwalt für Urheberrecht und Autorenschutz, Emmanuel Pierrat, mit einem enormen Stoß von Céline-Manuskripten.

Célines Erben klagten wegen Hehlerei von Kulturgütern

Sie seien ihm vor etwa fünfzehn Jahren mit der Auflage übergeben worden, deren Existenz erst nach dem Tod der Witwe publik zu machen, um der Gattin des notorischen Antisemiten und Nazisympathisanten keine zusätzlichen Autorentantiemen zukommen zu lassen, erklärte er. Was den Überbringer und die Herkunft des Schatzes angeht, verweigert Thibaudat jede Auskunft.

Im Sommer 2020 kam es dann zu einem ersten Treffen mit den beiden verblüfften und skeptischen Erben der verstorbenen Lucette Destouches, das heißt dem Anwalt und Céline-Spezialisten François Gibault sowie einer einstigen Freundin der Witwe. Eine Publikation der Texte bei Gallimard wurde zunächst gemeinsam ins Auge gefasst. Dann verklagten die Erben jedoch im vergangenen Winter Thibaudat wegen Hehlerei von Kulturgütern.

Thibaudat, der in jahrelanger geheimer Arbeit die Texte entziffert und transkribiert hatte, sich aber nie als Inhaber, sondern nur als Vermittler der Dokumente verstand und in keinem Moment an Verkauf gedacht haben will, übergab die ganze Sammlung den Behörden, die sie unlängst den Erben aushändigten. Das Manuskript von "Tod auf Kredit" wollen diese dem Vernehmen nach als Gegenwert für die Erbschaftssteuer der Französischen Nationalbibliothek vermachen, die vor ein paar Jahren schon die Manuskriptfassung von "Reise ans Ende der Nacht" für knapp zwei Millionen Euro erworben hat.

Céline beschuldigte die Résistance, sein Werk gestohlen zu haben

Bleibt die Frage, auf welchen Wegen diese teilweise angeschimmelten und mit Wäscheklammern zusammengehefteten Papiere, die offenbar jahrzehntelang in einem Keller lagen, ans Tageslicht kamen. Wie man nun weiß, sind sie tatsächlich im Sommer oder Frühherbst 1944 aus Célines Wohnung verschwunden, wahrscheinlich durch früh- oder spätberufene Résistance-Kämpfer, die mit den Kollaborateuren kurzen Prozess machen wollten.

Die Concièrge des Hauses hatte nach dem Krieg einem Forscher erzählt, es habe Papierblätter aus der Wohnung des Schriftstellers geregnet. Céline selbst nannte auch Namen, zum Beispiel den eines gewissen Korsen: Oscar Rosembly. Dieser sei es gewesen, der seine Wohnung geplündert und die auf einem Schrank liegenden Manuskripte gestohlen habe, schimpfte er 1949 in einem Brief an einen Freund. Der Herausgeber von Célines Korrespondenz bei Gallimard, Henri Godard, glaubt ebenfalls an diese Hypothese.

Jener Korse jüdischer Herkunft, den Céline während des Krieges auf dem Montmartre als Nachbar kannte und den er - antisemitische Klischees und Eigennutz gingen gut zusammen - zeitweise seine Buchhaltung besorgen ließ, wurde im befreiten Paris vorübergehend festgenommen, weil er sich offenbar etwas zu freizügig in den Wohnungen einstiger Kollaborateure bediente.

Zwanzig Jahre mit Céline-Neuerscheinungen könnten bevorstehen

Doch es gibt auch andere mögliche Hypothesen über das Verschwinden der Papiere. Alle münden aber im Rätsel, wie ein so wichtiges Konvolut mehr als ein halbes Jahrhundert lang verschollen bleiben und seine Existenz als bloße Spinnerei des 1951 aus dem Exil zurückgekehrten Schriftstellers abgetan werden konnte, der bis zu seinem Tod 1961 als Clochard und Villenbewohner mit seiner Frau in Meudon bei Paris lebte.

Der zwischen Schwärmerei und Flüchen alternierende Schriftsteller hat durch seine Exzesse gewiss viel dazu beigetragen, sich selbst unglaubwürdig zu machen. Die Bedeutung seines literarischen Vermächtnisses wächst aufgrund des gnadenlos scharfen Menschenbilds in den weitgehend autobiografischen Romanen aber stetig weiter. Mit dem Auftauchen der Blätter von "Casse-pipe" sei nun wohl eine klaffende Lücke im Werdegang des Schriftstellers geschlossen, jubelt der Céline-Forscher David Alliot: Zwanzig Jahre mit Céline-Neuerscheinungen stünden uns bevor.

Das könnte Anlass sein, den Autor in seiner literarischen Größe und seiner politischen Widerwärtigkeit neu ins Auge zu fassen. Vor drei Jahren ist das Projekt einer wissenschaftlichen Neuausgabe der zwischen 1937 und 1941 entstandenen antisemitischen Schriften "Bagatellen für ein Massaker", "Die Schule der Leichen" und "Schöner Schlamassel" bei Gallimard wegen heftiger Proteste eingestellt worden. Wegblicken ist bei diesem Autor aber nicht möglich.

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