London: Map Marathon:Die Kunst der Landkarten

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Eine Bühne, 50 Künstler, 20 Stunden Zeit: Kurator Hans Ulrich Obrist lud in London zu einem Veranstaltungs-Marathon rund um die Karten des 21. Jahrhunderts. Dabei ging es um mehr als nur Google Maps.

Laura Weissmüller

Die weißen Flecken galt es zu bezwingen. Mit Tropenhelm und Eispickel zogen die Männer in die Schlacht gegen das Unbekannte, wer siegreich war, befindet sich heute in Ruhmeshallen. David Livingston etwa, der Missionar und Afrikaforscher, der als erster Europäer die Victoriafälle sah und sie damit "entdeckte", blickt huldvoll aus seinem üppigen Stuckrahmen auf die Gäste der Royal Geographical Society in London hinab.

Aaron Koblin ist einer der Künstler, die erstaunliche Karten des 21. Jahrhunderts entwerfen. So verwandelt er beispielsweise Daten des US-Flugverkehrs in ein filigranes Netz aus weißen Linien. (Foto: N/A)

Hans Ulrich Obrist hat sich für seinen "Map Marathon", seinen Marathon der Karten, am vergangenen Wochenende genau diese ehrwürdigen Räume ausgesucht. Der Ort war gut gewählt, trieb den Schweizer Kurator und stellvertretenden Leiter der Serpentine Gallery doch ein ähnlicher Entdeckergeist wie die Forscher des Britischen Empires: Obrist war auf der Suche nach der Karte des 21. Jahrhunderts. Gleichwohl: Die neuen Helden lassen sich nicht einfach ausstellen.

Der Marathon war ganz buchstäblich zu verstehen. In 20 Stunden traten über 50 Künstler, Architekten, Philosophen, Wissenschaftler und Musiker auf die Bühne. Nach 15 Minuten wurden sie meist wieder heruntergescheucht, der nächste Redner wartete schon. Der englische Architekt David Adjaye stellte dort etwa seine Typologie der Architektur in Afrika vor, für die er zehn Jahre lang Bauten in den 53 Staaten fotografiert hat.

Die Skepsis an der Wahrheit von Karten

Die Philosophin Rosi Braidotti, die am Menschenrechts-Institut an der Universität Utrecht lehrt, verwies darauf, dass wir die Skepsis an der Wahrheit von Karten dem Postmodernismus verdanken. Und der amerikanische Literaturagent John Brockman, Gründer der einflussreichen Internetplattform "Edge", zeigte, wie unterschiedlich Karten in der Wissenschaft zum Einsatz kommen. Viele davon waren zwar Diagramme, wie der Entwicklungsbiologe Lewis Wolpert klarstellte, doch davon wollte sich in London keiner den Spaß verderben lassen.

So sah man ein verschlungenes Netz mit unzähligen Kreuzungspunkten, mit dem der Soziologe Nicholas A. Christakis und der Politikwissenschaftler James Fowler den Zusammenhang von Fettleibigkeit und sozialen Kontakten sichtbar machten, und der Gentechnik-Pionier J. Craig Venter lieferte etwas, was aussah wie eine endlose Reihe bunter Bauklötzchen: die Karte des ersten synthetisch zusammengesetzten Erbguts.

Es war das fünfte Mal, dass Hans Ulrich Obrist dieses Kräfte-zehrende Format des Marathons wählte, um ein Thema von möglichst vielen Standpunkten aus zu betrachten. Nach Manifest und Poesie - die Themen der beiden vergangenen Jahre - hat Obrist mit dem diesjährigen Fokus allerdings eine Punktlandung gemacht.

Nur wenige Technologien scheint das junge Jahrhundert so zu prägen wie die neue Kartografie. Das zeichnete sich bereits bei der DLD-Konferenz Anfang des Jahres in München ab, wo der Kurator schon einmal in kleiner Runde ein Symposium über Karten veranstaltete: Ob Designer, Astronom oder Internetkünstler - alle sprachen von den großen Veränderungen, die die digitale Kartografie bei ihnen angestoßen habe.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum die Deutschen die absoluten Meister im Kartenzeichnen sind.

Indem in London Obrist seine Gästeliste stark erweiterte, spiegelte der Marathon damit eine globale Entwicklung wider. Seitdem der US-Internetkonzern Google 2005 seinen Kartendienst Google Maps auf den Markt gebracht hat, ist die Karte geradezu omnipräsent. Von dem ehemals kostbaren Hilfsmittel für Helden und Herrscher ist ein von jedem leicht verfügbares Massenmedium geworden, das von Experten wie Laien eingesetzt wird.

Im Vorfeld zum "Map Marathon" hatte Obrist zeitgenössische Künstler um ihre persönliche Karte des 21. Jahrhunderts gebeten. Weil Obrist, schlicht der größte Netzwerker im Kunstbetrieb ist, weswegen er schon als der wichtigste Kurator der Welt betitelt wurde, gab es daraufhin viel Post für die Serpentine Gallery. Der italienische Provokateur Maurizio Cattelan füllte sein Heimatland mit Smiley-Köpfen.

Die im vergangenen Mai verstorbene Grande Dame der französischen Kunstwelt Louise Bourgeois verband die Orte ihrer Kindheit auf einer Frankreichkarte zu einem freundlich lächelnden Gesicht. Kunststar Damien Hirst lieferte die Wegbeschreibung von London zu seinem Landhaus - an den entscheidenen Stellen geschwärzt.

Die Künstler, die dann auf dem Londoner Podium auftraten, waren ähnlich prominent. Das englische Künstlerduo Gilbert & George sprach von ihrer persönlichen Kartensammlung. Die Performance-Queen Marina Abramovic benützte Hans Ulrich Obrist als Anschauungsobjekt für die "außergewöhnlichste und wichtigste Karte, die wir haben": den menschlichen Körper.

Ganze Viertel verschwinden über Nacht

Und der chinesische Künstler Ai Weiwei, der gerade die Londoner Tate Modern mit unzähligen Sonnenblumenkernen aus Porzellan geflutet hat, erklärte, warum seine Kunst sofort politisch wird, sobald er nur chinesische Städte abbilde oder die Umrisse des Kontinents mit Holz aus der Qing-Dynastie nachforme. China verändert sich rasant, ganze Viertel verschwinden über Nacht; indem Ai Weiwei das Verschwundene zeigt, wird seine Arbeit zum politischen Statement gegen den zerstörerischen Modernisierungswahn des chinesischen Systems.

Gerade diese Assoziationskraft von Karten macht das Medium für zeitgenössische Künstler so attraktiv. Kaum ein Symbol, mit dem auf politische oder soziale Entwicklungen so leicht hingewiesen werden kann wie mit Karten. Außerdem schwingt sofort der Anschein von Gewicht mit. Auch Alighiero Boetti habe, wie seine Witwe Annemarie Sauzeau in London erzählte, angefangen Karten in seiner Kunst zu zeigen, als er bemerkte, dass immer wenn etwas Wichtiges passierte, "Karten in der Zeitung zu sehen sind".

Wie Boetti verzichtete kaum ein Künstler bei Karten auf das Spiel mit dem doppelten Boden: Was Information und Ordnung suggeriert, lässt sich leicht einsetzen, um Verwirrung auszulösen und Vorstellungen zu hinterfragen. Die im Libanon geborene Künstlerin Mona Hatoum schafft das auf poetische Weise, etwa indem sie den Umriss der Erde aus Murmeln formte. Jede Vibration drohte die Ordnung zu zerstören. Die Skepsis an der Aussagekraft und Objektivität von Karten hat wohl kaum jemand so vehement gepredigt wie die Kunst.

Datenvisualisierung im Internet

Die erstaunlichsten Karten, die es in London jedoch zu sehen gab, waren jene, die sich mit Datenvisualisierung im Internet beschäftigten und damit genau das Medium benützten, das den neuen Siegeszug der Karten überhaupt begründet hat. Da ist etwa die Arbeit des jungen Medienkünstlers Aaron Koblin aus San Francisco. Für seine bekannteste Animation verwandelte er Daten des US-Flugverkehrs in ein filigranes Netz aus weißen Linien, das sich langsam im Osten aufbaut - während Seattle und San Francisco noch schläft - und sich dann gen Westen ausbreitet.

Selten schien das Internet eine solche ästhetische Kraft zu entwickeln wie hier und gleichzeitig das moderne Leben in Mikroform zu kondensieren. Etwas ähnliches gelang Hal Bertram, dem technischen Leiter der Logistik-Agentur itoworld, der die Flugbewegungen in Europa unmittelbar nach dem Vulkanausbruch in Island visualisierte. Sind das überhaupt noch Karten? Die Frage sei eher, was keine Karte mehr ist, meinte darauf Eric Rodenbeck, dessen Büro "Stamen Design" sich auf Datenvisualisierung spezialisiert hat. Rodenbeck entwirft interaktive Karten, die Mietern auf der Wohnungssuche helfen oder die Frequenz von Taxifahrten nachzeichnen.

Als Beschleuniger für diese Form der Datenvisualisierung fungiert Open Source-Software wie die Open StreetMap. Hier kann jeder Nutzer wie bei Wikipedea sein Kartenwissen eingeben. Wie nützlich das sein kann, zeigte Hal Bertram: Nach dem Erdbeben von Haiti speisten Freiwillige ihre Informationen über Port-au-Prince auf Open StreetMap ein. Tag für Tag wurde der bis dahin lückenhafte Stadtplan detaillierter. Auch wenn professionelle Organisationen wie der THW wegen der Sicherheit geschlossene Netzwerke bevorzugen und in Katastrophenfällen die virtuelle Plattform der UN benützen: Für den Wiederaufbau in Haiti bietet Open StreetMap bis heute essenzielle Informationen.

Die absoluten Meister im Kartenzeichnen sind übrigens die Deutschen. Bertram visualisierte die Verläufe auf Open StreetMap im Verlauf eines Jahres: Überall, wo etwas eingetragen wird, blitzt es weiß. Nach zwölf Monaten strahlt Deutschland auf der Karte als großer weißer Fleck.

© SZ vom 23.10.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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