Gegenwartsliteratur:Die Weisheit des Dorfes

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Lola Randl lebt in Gerswalde, einer der bekanntesten Utopisten-Siedlungen im Berliner Umland. In "Der große Garten" erzählt sie unterhaltsam von Schnecken, Eierschalen und Lebensphilosophie.

Von Jörg Magenau

Der Trend zur Natur ist ungebrochen. Die Landlust wächst immer weiter, die Großstädter zieht es hinaus aufs Dorf. Naturbücher über Bäume, Bienen und Borkenkäfer erleben eine ungeahnte Konjunktur, und auch der Dorfroman, der jahrzehntelang ein literarisches Schattendasein führte, treibt neue Blüten. Das Dorf allerdings ist längst nicht mehr, was es einmal war. Wenn die Großstädter auf der Suche nach Stille und Waldeinsamkeit ins Umland ziehen, bringen sie unweigerlich all das mit, wovor sie davonzulaufen hoffen: Vor allem und zuerst sich selbst. Und so ist es dann auch mit der Stille bald vorbei.

Dörte Hansen hat in ihrem Roman "Mittagsstunde" den Strukturwandel beschrieben, der aus der bäuerlichen Welt eine Industrie und aus den Dörfern Schlafstätten für Städter gemacht hat. Juli Zehs Bestseller "Unterleuten" schilderte das Dorf als Ort politischer und persönlicher Intrigen. Idylle gab es dort zwischen Windrad und Fäkaliengrube nicht allzu viel. Das ist bei Lola Randl anders, die nun ein wundervolles Buch mit dem Titel "Der große Garten" vorlegt. Es ist weniger sentimental als "Mittagsstunde" und weniger romanhaft als "Unterleuten", dafür aber schärfer, genauer, lebenslustiger. Es nennt sich zwar Roman, ist aber eher eine sehr persönliche Betrachtung oder eine Art Tagebuch, indem es ein Jahr von der ersten Aussaat bis zum Wintergemüse protokolliert und dabei das Dorf zum Kosmos weitet.

Lola Randl, 1980 in München geboren und in einer bayerischen Ökokommune aufgewachsen, ist bisher als Filmregisseurin und Drehbuchautorin hervorgetreten. Vor einigen Jahren erwarb sie ein ziemlich großes Haus in der Mitte von Gerswalde in der Uckermark. Das ist nicht irgendein Dorf, sondern ein weithin bekanntes Vorzeigedorf, ein Magnet für den Landtourismus aus Berlin, oft porträtiert in Presse und Fernsehen. Randls Film "Von Bienen und Blumen", der im Sommer 2018 auf dem Münchner Filmfest Premiere hatte, zeigt, wie sie dort mit Mann und zwei Kindern, Mutter und Liebhaber lebt. Darum geht es nun auch in "Der große Garten".

Ein Designer bietet Workshops darüber an, welche Workshops man anbieten könnte

Vom Film her hat Lola Randl ein Gespür für szenische Verknappung und Dialoge und sie besitzt einen genauen, liebevoll-ironischen Blick auf die Menschen ihrer Umgebung. Das kommt ihrem literarischen Debüt zugute. All die Figuren, die da auftreten, gibt es wirklich. Literarisch ist an ihnen vor allem, dass sie auf ihre Funktionen reduziert sind und - abgesehen von Hermann und Irmgard, einem alten Ehepaar-Urgestein und dem kleinen Sohn Gustav - keine Namen haben. So gibt es neben "Mann", "Liebhaber", "Nachbarin" und "Mutter" auch "Künstlerin", "Kuratorinnen" und "neue Menschen" aus der Stadt, die das Dorf als ihren Erfahrungserweiterungsraum betrachten und das GPS-Muster ihrer Waldwanderung auf der Handy-Karte tiefenpsychologisch interpretieren.

Es gibt einen Kulturdesigner, der Workshops darüber anbietet, welche Workshops man anbieten könnte. Es gibt die "Japanerinnen", die im viel zu großen Haus ein Café eröffnen, um die Uckermark mit fernöstlichem Gebäck zu beglücken.

Aber da ist auch die Therapeutin in Berlin, die an Lola Randls Resistenz verzweifelt und der Analytiker, der, anstatt zu analysieren, lieber Fotos von seinem Penis schickt. All diese Sinnsucher und Wahnsinnigen gehören in den Kosmos des modernen Dorfes. Provinz ist nicht einfach nur das Gegenteil der Metropole, sie ist vielmehr ihre Kehrseite und ihr Spiegelbild.

Das Buch besteht aus kurzen Abschnitten, die mithilfe eines Glossars im Anhang gezielt angesteuert werden können. Es reicht von A wie Abhängigkeit oder Apfeltag bis Z wie Zucchini, Zerrissenheit oder Zelt. Kohlweißling, Maulwurf und Schnecken kommen ebenso vor wie Kosmos, Gott und Ungeduld, womit schon klar ist, dass es um Fragen der Moral, des Zusammenlebens und der persönlichen Lebensgestaltung ebenso geht wie um alles Wissenswerte, das dabei hilft, natürliche Prozesse zu verstehen und einen Garten zu kultivieren.

Der besondere Reiz besteht darin, wie Lola Randl auf witzige, überraschende Art und Weise Natur und menschliche Verfasstheit ins Verhältnis zueinander setzt. Ausgehend von der Planlosigkeit der Evolution, die sich verschwenderisch nach dem Prinzip "Try And Error" fortschreibt, ist das Misslingen der sozialistischen Planwirtschaft leicht zu verstehen. Auch die Religion ist nicht mehr geeignet, den fehlenden "Masterplan" zu kompensieren. Und warum neigt der Mensch dazu, seine Triebe zu unterdrücken, wo die Pflanzen doch gerade deshalb erfolgreich sind, weil sie ihren Triebdrang niemals zügeln?

Die oberste Regel heißt: "Den Schein wahren", selbst wenn alle wissen, dass es nur Schein ist

Der "große Garten" in Gerswalde, um den sich vor allem die Mutter kümmert, da sie im Unterschied zur Tochter weiß, was sie tut, ist ein großer Kampfplatz, auch wenn ein Garten eine Einfriedung ist und also mit Frieden zu tun hat: "Der Garten ist immer ein Kampf zwischen den eigenen Vorstellungen und äußeren Gegebenheiten." Man bewegt sich mit Lola Randl zwischen Ertrag, Experiment und Entspannung, Rückzug und Therapie: "Im Garten geht es immer um das Wechselspiel von Kontrolle und Freiheit." Schon deshalb lässt sich vom Garten und von den Pflanzen sehr viel lernen - über das Leben im Allgemeinen und über sich selbst im Besonderen. Der Garten ist genauso wie das Leben in der Provinz, denn in beiden Fällen geht es um das Zusammenspiel unterschiedlichster Kräfte und Bedürfnisse. Auch das Dorf ist ein Ort, an dem die eigenen Vorstellungen und die äußeren Gegebenheiten unentwegt in Übereinstimmung gebracht werden müssen.

Lola Randl: Der große Garten. Roman. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019. 316 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

Wer hier mit Kindern, Mutter, Mann und Liebhaber lebt, muss die ungeschriebenen Regeln des Zusammenlebens sehr gut kennen. Die oberste Regel heißt: "Den Schein wahren". Das gilt auch dann, wenn alle wissen, dass es nur der Schein ist. Deshalb verlässt die Erzählerin das Haus des Liebhabers taktvoll durch die Hintertür und schleicht sich heimlich nach Hause. Dadurch hat jeder Dorfbewohner die Möglichkeit, schweigend darüber hinwegzugehen; auch wenn die Wahrheit offensichtlich ist, ist keiner verpflichtet, sie zur Kenntnis zu nehmen. Darin besteht die tiefe Weisheit des Dorfes, das ein kollektives Unbewusstes besitzt und ein Gedächtnis, das wie ein Magen alles verdaut und verschwinden lässt. "Das Dorf weiß alles, ihm entgeht nichts, nichts ist gering genug, um nicht beachtet zu werden. Und trotzdem gibt es eine Schwelle, unter der es sich nicht herumspricht."

Trotzdem geraten die Zeitgeschichte und der gesellschaftliche Wandel in den Blick. Da sind die Nachkommen derer von Arnim, die sich wieder zu etablieren versuchen. Preußisches Junkertum, sozialistische Bodenreform und LPG-Gründung, Wendezeit und kapitalistisch-industrielle Landwirtschaft gingen auseinander hervor und haben gerade in dieser Gegend zu verheerenden Resultaten geführt, indem die Äcker heute ins Unendliche tendieren und die Betriebe von Epoche zu Epoche immer größer geworden sind. Einen "Knecht" gibt es da nur noch als ironisches Zitat, wenn der Liebhaber einen der "neuen Menschen" aus der Stadt bei sich aufnimmt, der auf der Suche nach Erfahrungen wissen will, welches Glück das Leibeigenendasein zu bieten hat.

Lola Randls "Der große Garten" ist lehrreich und unterhaltsam. Man lernt, wie man Schnecken bekämpft (indem man zerbrochene Eierschalen ausstreut, darauf zerschneiden sie sich), und dass man niemals Äpfel und Kartoffeln zusammen lagern sollte. Man erfährt, dass Rehe "Konzentratselektierer" sind und dass die Zeit des Zweinutzungshuhns vorbei ist. Wichtiger aber sind die weltanschaulichen Fragen, die Lola Randl in einem ausgesucht naiven Ton vorträgt, so als rede da ein kleines Kind über Gott und die Welt.

Dass der rastlosen Tätigkeit, die das Dorfleben fördert und fordert, die Angst zugrunde liegt und dass jede Angst eine Angst vor dem Tod ist, sind sicherlich keine besonders tiefen philosophischen Erkenntnisse. Sie sind hier aber eingebettet ins unmittelbare Erleben. Tiere verenden. Menschen sterben. Das ist ein Unterschied. "Es ist einzig und allein die Angst vor dem Tod, die der Tod zu bieten hat", schreibt Lola Randl. "Dass man selber oft gar nicht weiß, an was man denkt, wenn man an den Tod denkt, ist dabei egal." Sie weiß jedoch sehr genau, dass der Tod viel mehr zu bieten hat: Die eigene Ungeduld und der unbändige Schaffenstrieb speisen sich schließlich aus einer Lebenslust, die es ohne die Grenze des Todes nicht gäbe.

© SZ vom 11.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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