Literaturwissenschaft:Geisterbeschwörung

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Von Gespenstern, Musicals und Apfelbäumen: Die Oxforder Literatur-Vorlesungen von Ali Smith klären kunstvoll ab, was Literatur ist.

Von Nicolas Freund

Eine der vielen Merkwürdigkeiten, die das Fach Literaturwissenschaft auszeichnen, ist die Vorliebe, sich der Methoden seines Gegenstands zu bedienen, um den eigenen Forschungsbereich einzugrenzen. Darüber, was Literatur eigentlich ist, gehen selbst innerhalb einzelner Institute die Ansichten weit auseinander. Die meisten Forscher können sich aber darauf einigen, dass die Literatur Ähnlichkeiten mit dem Traum hat, vor allem, wie er von Sigmund Freud beschrieben wurde. Oder dass sie etwas Gespenstisches an sich hat, wenn sie Stimmen, Menschen und Dinge erscheinen lassen kann, die gar nicht wirklich da sind. Randständiger, aber auch nicht unbeliebt, ist der Vergleich der Literatur mit Pflanzen, vielleicht vor allem deshalb, weil Pflanzen zur Metapher für so ziemlich alles taugen. Der Roman als ornamentales Blumenbeet, warum nicht?

Im Frühjahr 2012 hatte die schottische Autorin Ali Smith eine Gastprofessur in Vergleichender Literaturwissenschaft am St. Anne's College in Oxford inne. Sie hielt dort vier Vorlesungen, die nun "wie sie gehalten wurden" in einer sehr aufmerksamen deutschen Übersetzung erscheinen. Die Texte mit den Titeln "Zeit", "Form", "Ränder" und "Angebot und Widerspiegelung" drehen sich im Wesentlichen um diese Frage, auf die viele Literaturwissenschaftler immer wieder zurückkommen: Was ist das eigentlich, Literatur? Smith gibt darauf eine performative Antwort. Ihre Texte sind keine klassischen Vorlesungen, sondern Mischungen aus Kurzgeschichten und Theorie, die sich zu so etwas wie einem Roman zusammenfügen.

Die verstorbene Lebensgefährtin der Erzählerin hat sich in einen freundlichen Zombie verwandelt

Die Lebensgefährtin der Erzählerin, eine Literaturwissenschaftlerin, ist gestorben, geistert aber als eine Art freundlicher Zombie noch immer durch das gemeinsame Haus. Die Erzählerin lenkt sich mit Musicals und Dickens-Romanen ab, sie wühlt in den Unterlagen der Geliebten, um die versprochenen Vorlesungen doch noch irgendwie in einen vortragbaren Zustand zu bekommen. Ali Smiths Methode ist lesen und schreiben zugleich.

Ali Smith: Wem erzähle ich das? Aus dem Englischen von Silvia Morawetz. Luchterhand Literaturverlag, München 2017. 224 Seiten, 20 Euro. E-Book 15,99 Euro. (Foto: Luchterhand)

"Walter Benjamin sagt, der Erzähler habe seine Autorität dem Tod entliehen," heißt es in den Auszügen aus den halb fertigen Skripten, die etwa die Hälfte des Textes ausmachen. Wir Leser folgen der Erzählerin, denn in Smith' Texten weiß sie wortwörtlich um den Tod, der in Gestalt der verstorbenen Geliebten, als fast barockes memento mori immer anwesend ist. "You must remember this, as time goes by, the fundamental things apply." Wo nötig oder nützlich, lässt die Übersetzerin Silvia Morawetz auch den englischen Text stehen.

Bedeutsam ist nur, was auch ein Ende hat. Oft wird eine Parallele zwischen Text und Tod gezogen. Der Vergleich ist selbst etwas beliebig, da er sich auch leicht umdrehen lässt: Literatur entwischt dem Tod, da sie ja gerade nicht sterben kann und offene Formen wie der Roman haben theoretisch das Potenzial, ihr Ende endlos hinauszuschieben. Sie sind geschrieben, als könne es immer so weitergehen. In dem Vergleich scheint aber eine Facette der Literatur auf, die sonst kaum sichtbar zu machen gewesen wäre. Davon ausgehend spinnt Smith die Gleichnisse weiter.

Wenn Ali Smith ihre gespenstische Geliebte mit der Literatur vergleicht, geht es dabei nicht auch um Liebe? "Ich wusste zwar, dass es bei Vergleichen um ein like ging, um ein 'wie', war aber nie auf den Gedanken gekommen, dass es bei Metaphern um Liebe gehen konnte." In einem der vielen Gedichte, die sie zitiert, deren Quellen sie aber nicht immer angibt, findet Ali Smith den Vergleich des Herzens mit einem Apfelbaum. Ein Wegweiser durch alle Vorlesungen ist Dickens "Oliver Twist". Unter den Bildern und Fotografien, die Smith anführt und die im Buch enthalten sind, finden sich auch Collagen, in denen der Buchrücken der alten Dickens-Ausgabe zum Baum oder Ast wird. Pflanzen und Literatur, das taugt, wie gesagt, zu fast allem. Papier wird ja auch aus Holz hergestellt und das Herz kann sich, wie ein Apfelbaum, selbst heilen, heißt es in dem Gedicht. "Es sei denn, es erging ihm wie den buchstäblich Tausenden Apfelbäumen, die erst in der letzten Zeit von den britischen Inseln verschwanden, weil Supermärkte meinen, fünf verschiedene Apfelsorten im Angebot zu haben sei ausreichend." Nichts ist tödlicher für das Schreiben als die immer selben Vergleiche.

Der Tod ist eine Grenze, in den beiden letzten Vorlesungen streift Smith die Grenzbereiche der Literatur. Neben den Klassikern, Sylvia Plath, W. H. Auden, W. G. Sebald, mit denen sich jeder Literaturstudent in England auseinandersetzen muss, sucht sie ihre Beispiele in den Fotografien vergessener Surrealistinnen und in griechischen Muscials. Oft verdichtet sie Themen, über die sich Dissertationen schreiben ließen: Literatur als Spiegel, als Identitätsstifter und die Rolle des Zufalls von Dickens' Romanen bis zu Shakespeares Dramen, "an deren Ende eine Wiedergeburt steht, ein Verlorener wiedergefunden wird oder ein Toter ins Leben zurückkehrt, oft mittels einer klug angewandten List". Was Literatur ist, man weiß es am Ende der Vorlesungen. Aber man kann es nicht so einfach sagen.

© SZ vom 26.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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