Literaturtagung:Europäische Journalpoetik

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Eine Zeitschriftentagung im Marbacher Literaturarchiv geht der Frage nach, welche europäischen Impulse von Zeitschriften wie "Merkur", "Sinn und Form", "Kursbuch" ausgegangen sind.

Von Volker Breidecker

"Europa sieht schlecht aus." Diese Erkenntnis stand am Anfang eines Nachkriegsessays des Schweizer Schriftstellers Denis de Rougement über "Die Krankheiten Europas". Mit deren Diagnose eröffnete der "Merkur", die "deutsche Zeitschrift für europäisches Denken", im Januar 1947 das erste Heft des ersten Jahrgangs. Begleitet von einem Verweis auf Wielands "Teutschen Merkur", einst Forum der Aufklärung, postulierte der Herausgeber Hans Paeschke damals "in einem Moment, der nunmehr unausweichlich die Frage nach der Einheit Europas stellt", die Wiederaufnahme des "europäischen Gesprächs" unter den besten Geistern.

Sieben Jahrzehnte später versucht sich eine Marbacher Tagung an der Bilanz jener europäischen Impulse, wie sie die Zeitschriftenkultur der vergangenen zwei Jahrhunderte prägten, und fragte nach den Möglichkeiten und Hindernissen für die Realisation einer europaweit verlegten Zeitschrift. Dass dabei gegenwärtig Skepsis, wenn nicht Ratlosigkeit überwog, konnte nicht verwundern, schärfte aber den Blick für die Virtualität einer Idee, die dem aufgeklärten Zeitschriftenwesen seit den Anfängen innewohnt.

Dies zeigte der Überblick des Potsdamer Historikers Iwan-Michelangelo D'Aprile über den europaweit vernetzten politischen Zeitschriftenjournalismus in Deutschland um 1800. Bereits für den Verfasser der ersten deutschsprachigen "Geschichte des Journalismus" - sie stammt von Robert Prutz, einem literarischen Vertreter des Vormärz - war er "die tägliche Selbstkritik", das "Selbstgespräch", "das eine Zeit über sich selbst führt". Durch die europäische Verflechtung von Akteuren, Formaten und Inhalten konstituierten die Diskurse und Netzwerke D'Aprile zufolge einen "europäischen Öffentlichkeitsraum" jenseits der Staatsgrenzen.

Die Zeitschriften erweisen sich in ihrer Vielfalt als Handreichung und Anstiftung zum Dialog

Einen vergleichbaren "Zeitschriftenfrühling" wie um 1800 gab es in Deutschland nur noch einmal zwischen 1945 und 1948/49. Das Panorama der Zeitschriftenlandschaft der Nachkriegszeit lieferte der Hamburger Historiker Axel Schildt. Er registriert eine dreistellige Zahl politisch-kultureller Zeitschriften. Alle verstanden sich als Organe einer Reorientierung, alle strebten nach Hegemonie. Auch wenn nur die wenigsten die Anfangsjahre überdauerten, so waren sie doch wichtige intellektuelle "Kraftfelder", boten neuen Akteuren, Formen und Ideen eine Plattform.

Zu den wenigen prominenten Neugründungen der Nachkriegszeit, die bis heute überlebten, zählen der "Merkur" und die von dem Lyriker Peter Huchel geleitete, im damaligen Ost-Berlin entstandene Zeitschrift "Sinn und Form". Mit Understatement präsentiert sie "Beiträge zur Literatur", die es nach Form, Sinn und Bedeutung in sich haben, ohne dies durch Konfektionierung und regelmäßiges Facelifting ostentativ behaupten zu müssen. Anke Jaspers aus Berlin zeigte, wie die Zeitschrift ihren Anspruch auf Internationalität und gesamtdeutsche Repräsentanz gegen alle Widrigkeiten bewahren konnte.

Über das erste Jahrzehnt des "Merkur" und darüber, wie hier Titel und Untertitel der Zeitschrift zum Programm wurden, sprach Hanna Klessinger aus Freiburg. Mit Gide, Valéry, Proust und Eliot als Hausheiligen gelang Paeschke und seinem Mitstreiter Joachim Moras die Begegnung mit einer Gegenwart, deren Moden und ideologischen Postulaten gegenüber man die Distanz einer skeptischen Intelligenz bewahrte. Anders wurde Jan Bürger aus Marbach zufolge schon vor und erst recht nach 1968 das "Kursbuch" - auch hier ist der Titel Programm - von Hans Magnus Enzensberger und Karl Markus Michels zum auflagenstarken "Modeobjekt" und zum "Instrument der Selbstverständigung einer akademischen Generation".

Aus der Tradition avantgardistischer "Little Magazines" kam hingegen die in ihrer Bedeutung gar nicht zu unterschätzende "alternative". Deren Herausgeberin Hildegard Brenner warf - laut Moritz Neuffer aus Berlin - im Zuge der Bedeutungsverlagerung des Wörtchens "alternativ" auf eher theorieferne Bewegungen demonstrativ das Handtuch und stellte das Erscheinen der Zeitschrift 1982 schließlich mit einer letzten Archiv-Nummer ein.

Der vergleichenden Schau diente ein prominent besetztes Podium mit den Chefredakteuren Michel Crépu von der "Nouvelle revue française" (NRF), Lorin Stein von der legendären "Paris Review" - dort von Expatriierten 1953 gegründet, seit 1973 im New Yorker Stadtteil Chelsea ansässig - und Matthias Weichelt von "Sinn und Form". Verbunden mit dem Bekenntnis zum schönen "Unzeitgemäßen" erläuterte Weichelt das unter Huchels Nachfolgern bis heute praktizierte Kompositionsprinzip: Alle Programmatik wird durch den Zusammenhang der Texte selbst gestiftet. Sie erweisen sich in ihrer Vielfalt und Vielstimmigkeit als Handreichungen und Anstiftungen zum Dialog, wodurch immer wieder neue Beziehungen und überraschende Nachbarschaften ermöglicht werden. Zeitschriften spiegeln demnach die Literatur und das intellektuelle Räsonnement sehr viel weniger, als dass sie es selber hervorbringen. Daher sind sie unverzichtbar und werden sich auch in der digitalen Welt, in der sie sich parallel einzurichten wissen, behaupten.

© SZ vom 21.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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