Moral ist keine Privatsache. Vor allem dann nicht, wenn es um den Umgang mit mutmaßlichen Spitzeln und Denunzianten in einem totalitären Regime geht. Das stellte die Autorin Sabina Kienlechner in ihrem Aufsatz "Der arme Spitzel. Die rumäniendeutschen Schriftsteller und das juristische Debakel der Securitate-Aufarbeitung" fest, der im März 2014 in der Zeitschrift Sinn und Form erschien. Nun scheint es, als sei die Literaturwissenschaftlerin selbst Opfer ähnlicher Verschleierungsmethoden geworden, wie sie sie in ihrem Essay aufdeckt und beklagt.
Die Gerichte, so Kienlechners These, würden in ihren Urteilen dem Persönlichkeitsschutz der Täter meist größeres Gewicht einräumen als der Aufarbeitung und Wahrheitsfindung auf Seiten der Opfer. Der scharfsichtige Text war im Sommer durch eine einstweilige Verfügung gerichtlich verboten worden. Der rumäniendeutsche Schriftsteller Claus Stephani, der von Kienlechner in ihrem Essay als "mutmaßlicher Spitzel" bezeichnet wurde, sieht seine Persönlichkeitsrechte verletzt.
Persönlichkeitsschutz geht vor historischer Aufarbeitung und Wahrheitsfindung
Stephanis Fall ist nicht Hauptgegenstand des Aufsatzes, sondern taucht lediglich auf zwei der insgesamt zwölf Seiten auf. Zudem gibt es beweiskräftige Dokumente der CNSAS, der rumänischen Behörde zur Aufarbeitung der Securitate-Akten, die die Übereinstimmung der Identität Stephanis mit den Decknamen "Moga" und "Marin" als IM der Securitate "mit Gewissheit" feststellen. Interessant ist, dass beispielsweise Herta Müller in einem FAZ-Artikel sehr viel direktere und härtere Anschuldigungen gegen Stephani vorbringt, ihn als "einen der eifrigsten Spitzel der Securitate" bezeichnet und ihm auch deren "Verleumdungsmethoden" vorwirft, ohne dass Stephani gegen die Nobelpreisträgerin vor Gericht gezogen wäre.
Stattdessen klagte er in gleicher Sache bereits gegen den Journalisten Richard Wagner und gegen Stefan Sienerth, Leiter des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität: mit Erfolg, in mehreren Fällen wurde dem Persönlichkeitsrecht Stephanis vom Gericht oberste Priorität eingeräumt. Auf die problematische Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit weist die Autorin in ihrem Aufsatz hin, nun muss sie sich in ihrem eigenen Fall darauf berufen. "Wenn ein solcher Text vor Gericht kommt, ist er bereits tot", sagt Kienlechner, die zusammen mit dem Chefredakteur von Sinn und Form, Matthias Weichelt, im Oktober vor dem Münchner Landgericht für ein erneutes Erscheinen ihres Essays kämpfte. "Ich möchte dem Leser gegenüber wie ein lebendiges Wesen auftreten und nicht wie eine durchgeknallte Gerichtsmaschine".
Das zähe Ringen um einzelne Formulierungen hat nun ein vorläufiges Ende: Die drei beanstandeten Stellen des Aufsatzes, die einer Neuauflage entgegenstanden, wurden nun gerichtlich festgelegt. Ein Teilerfolg, findet Weichelt, der für die Zeitschrift zumindest die Möglichkeit bietet, den Essay wieder zu veröffentlichen, indem die betreffenden Formulierungen, gegen die Stephani klagte, geschwärzt werden. Weichelt will dies in jedem Fall für die Öffentlichkeit transparent machen und einen wissenschaftlichen Diskurs fördern.
Kompromissfindung in "grotesker Weise vereitelt"
Auch die Autorin betont: "Diese Debatte gehört in die Öffentlichkeit und nicht vor Gericht." Das eigentlich Brisante an diesem Fall sei die Tatsache, dass die Gegenseite mit allen Mitteln versuche, jegliche öffentliche Auseinandersetzung zu blockieren, erklärt der Chefredakteur: "Eigentlich geht es Stephani nicht um seinen Ruf, sondern darum, eine mögliche Aufarbeitung der rumäniendeutschen Spitzel-Vergangenheit zu verhindern."
Schon während des Verfahrens hätte Stephanis Anwalt jegliche Form, einen gemeinsamen Kompromiss zu finden, in "grotesker Weise vereitelt", so Weichelt. Er ist verärgert darüber, mit welchen Mitteln die gegnerische Seite den Prozess führte und jedes Entgegenkommen mit absurden Forderungen abschmetterte. Verzögerungstaktiken, sowie Einschüchterungs- und Verschleierungsversuche gehören laut Weichelt zur Strategie von Stephanis Anwalt, für den Chefredakteur gleicht das Securitate-Methoden.
Auch Richter Mittelsten Scheid bedauerte die erneute Zusammenkunft der beiden Parteien Ende September vor dem Landgericht München, es sei der "falsche Ort" für eine Auseinandersetzung in dieser Sache, die eigentlich einer "gemeinsamen Reise in Archive" bedürfe. Eine Darstellung der eigenen Sichtweise ist Stephani offenbar nicht wichtig. Dem vor Gericht formulierten Vergleichsvorschlag, bei dem Sinn und Form dem Schriftsteller einen Gastbeitrag in ihrer Zeitschrift einräumte, stimmte Stephanis Anwalt nicht zu. Kienlechner sieht es als Fehler, dass Stephani keine Gegendarstellung schreiben möchte, denn so könne er auch niemanden von seiner Unschuld überzeugen.
Wirft man einen Blick auf den Blog des Schriftstellers, wirkt es nicht so, als hätte Stephani kein Interesse an einer Schilderung der eigenen Befindlichkeit. Die Berichterstattung der Medien bezeichnet er dort als "späte Vendetta" und sieht sich an den Pranger gestellt. Auch 25 Jahre nach dem Mauerfall gibt es in Sachen deutsch-rumänische Vergangenheit noch einiges aufzuarbeiten.