Literaturnobelpreis:Zeugnisse

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Swetlana Alexijewitsch will mit der Gründlichkeit des "Tagmenschen" beschreiben, was in der Nacht geschieht. Dies sind Auszüge aus ihrem Werk.

Über sich selbst

"Ich suche nach der Sprache. Der Mensch hat viele Sprachen: die Sprache, in der er mit seinen Kindern spricht, die Sprache der Liebe . . . und die Sprache, in der wir mit uns selbst reden, die Sprache der inneren Selbstgespräche. Auf der Straße, auf der Arbeitsstelle, auf Reisen - jedes Mal eine andere Sprache, nicht nur die Worte sind verschieden. Es ist sogar ein Unterschied, ob man morgens oder abends spricht. Und was in der Nacht zwischen zwei Menschen geschieht, fehlt in der Geschichtsschreibung ganz. Wir haben es nur mit der Geschichte des Tagmenschen zu tun. Selbstmord ist ein Nachtthema, da steht der Mensch an der Grenze zwischen Sein und Nichtsein. Oder Schlaf. Das möchte ich verstehen, mit der Gründlichkeit des Tagmenschen. Ich wurde gefragt: ,Haben Sie keine Angst, dass Sie Gefallen daran finden?' " (aus "Secondhand-Zeit", Carl Hanser Verlag)

"Nach der Perestroika warteten alle auf die Öffnung der Archive. Sie wurden geöffnet. Und wir erfuhren vieles aus der Geschichte, das man vor uns geheim gehalten hatte . . .

,Wir müssen neunzig der hundert Millionen, die Sowjetrussland bevölkern, für uns gewinnen. Mit den Übrigen ist nicht zu reden - sie müssen vernichtet werden.' (Sinowjew, 1918)

,Mindestens 1000 notorische Kulaken und Reiche aufhängen (unbedingt aufhängen, damit das Volk es sieht) . . . ihnen alles Getreide wegnehmen, Geiseln bestimmen . . . Dafür sorgen, dass das Volk im Umkreis von Hunderten Werst das sieht und zittert . . .' (Lenin, 1918)

,Moskau verhungert buchstäblich.' (Professor Kusnezow an Trotzki) ,Das ist kein Hunger. Als Titus Jerusalem einnahm, aßen jüdische Mütter ihre eigenen Kinder. Wenn ich eure Mütter dazu bringe, die eigenen Kinder zu essen, dann können Sie kommen und sagen: Wir hungern.' (Trotzki, 1919)

Die Menschen lasen das alles in Zeitungen und Zeitschriften und verstummten. Ein so unvorstellbares Grauen! Wie sollten sie damit leben? Viele nahmen die Wahrheit auf wie einen Feind. Und auch die Freiheit." ("Secondhand-Zei t", Hanser Verlag)

Afghanistan-Krieg

"Wir warten auf eine Karawane. Wir warten zwei, drei Tage, liegen im heißen Sand, pissen einfach unter uns. Am Ende des dritten Tages wirst du zum wilden Tier und gibst voller Hass den ersten Feuerstoß ab . . . Als die Schießerei zu Ende ist, sehen wir, dass die Karawane Bananen und Marmelade befördert . . . Jetzt kann ich keine Marmelade mehr sehen . . ." ("Zinkjungs", Hanser Verlag)

Tschernobyl

"Also, man brachte uns hin . . . Direkt ins Atomkraftwerk. Jeder bekam einen weißen Kittel, eine weiße Mütze, einen Mundschutz aus Mull. Wir säuberten das Gelände. Einen Tag lang schrubbten und kratzten wir unten, einen Tag lang oben, auf dem Dach des Reaktors. Überall mit Schaufeln. Die oben arbeiteten, wurden ,Störche' genannt. Roboter machten nicht mit, die Technik spielte verrückt. Aber wir arbeiteten. Und wir waren sehr stolz darauf." ("Tschernobyl - eine Chronik der Zukunft", Berlin Verlag)

"Er veränderte sich. Jeden Tag traf ich auf einen anderen Mann . . . Die Verbrennungen traten zutage . . . Im Mund, auf der Zunge, auf den Wangen . . . Zuerst kleine Bläschen, die größer wurden . . . Die Schleimhaut löste sich in Schichten ab . . . In weißen Häutchen . . . Die Gesichtsfarbe . . . Die Farbe des Körpers . . . Blau . . . Rot . . . Graubraun . . . Es gehörte doch alles zu mir, war mir lieb und vertraut! Das kann man gar nicht erzählen! ("Tschernobyl . . .", Berlin Verlag)

Zweiter Weltkrieg

"Da stießen wir auf Deutsche, eine Patrouille, die das Feld bewachte. Sie schütteten unsere Körner auf die Erde und bedeuteten uns: Stellt euch hin, wir erschießen euch. Wir heulten los, und Mama küsste ihnen die Stiefel. Sie saßen auf Pferden, ganz hoch, und sie packte ihre Beine, küsste sie und bettelte: ,Panotschki! Erbarmen . . . Panotschki, das sind alle meine Kinder. Sehen Sie doch, alles Mädchen.' Sie schossen nicht und ritten weiter.

Als sie weg waren, fing ich an zu lachen. Ich lache und lache, nach zehn Minuten lache ich noch immer. Nach zwanzig Minuten . . . Ich falle um vor Lachen (. . .) Den ganzen Weg über lache ich. Auch zu Hause lache ich noch. Grabe mich ins Kissen ein (. . .) Den ganzen Tag habe ich so gelacht. Sie dachten, ich . . . Naja, Sie verstehen schon . . . Alle hatten Angst . . . Sie fürchteten, ich hätte den Verstand verloren (. . .) Das ist bei mir bis heute so geblieben: Wenn ich erschrecke, lache ich lauthals. Ganz laut. ("Die letzten Zeugen - Kinder im Zweiten Weltkrieg" , Hanser Verlag)

© SZ vom 09.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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