Literaturkritik:Neugier und Funkenflug

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Hanns Grössel war Literaturkritiker und Übersetzer. Zu seinen Fixpunkten zählte Jean-Paul Sartre, zu seinen Entdeckungen Patrick Modiano. Eine Auswahl seiner Texte über französische Literatur zeigt seine Brillanz.

Von Helmut Böttiger

Der 2012 im Alter von 80 Jahren gestorbene Hanns Grössel war der Idealtyp des Literaturredakteurs. In seinen drei Jahrzehnten beim Westdeutschen Rundfunk standen die Bücher selbst im Mittelpunkt. Er förderte junge Begabungen, und seine Mitarbeiterliste liest sich wie eine Auswahl derer, deren Texte auch später noch gültig sein würden. Die Kritikerin Sibylle Cramer etwa erinnerte sich daran, dass Grössel sie nach jedem Eingang eines Manuskripts anrief, und danach "folgte ein Gespräch, das den behandelten Gegenstand in die Lebens- und Werkgeschichte des Autors erweiterte und in einen literaturgeschichtlichen Zusammenhang stellte."

Grössels eigene Kritiken und seine Tätigkeit als Übersetzer, für die er viele Preise erhielt, ergänzten sich. Er arbeitete sich nicht an der Atmosphäre des Tagesgeschäfts ab, sondern glänzte durch Belesenheit und Kenntnis der Veröffentlichungs- und Rezeptionsgeschichten. Dieser klassische Bildungsbürger war Spezialist für gleich zwei Sprachen, die französische und die dänische. Das war seiner Biografie geschuldet. Als Sohn eines nach Dänemark versetzten Lehrers verbrachte er dort acht Jahre seiner Jugend, und nachdem er 1953/54 ein halbes Jahr in Paris gelebt hatte, sattelte er in seinem Studium von der Altphilologie auf Romanistik um - nicht zuletzt, um den Spuren zu folgen, die sein Vater im von den Deutschen besetzten Paris Anfang der Vierzigerjahre hinterlassen hatte und von denen er wenig wusste. Das verbindet ihn auf überraschende Weise mit dem Nobelpreisträger Patrick Modiano, der die zwielichtige Rolle seines Vaters im Paris der Kollaboration und Résistance immer wieder zum Ausgangspunkt seiner literarischen Exkursionen machte. Hanns Grössel hat bereits in den Achtzigerjahren, als verschiedene Verlage Modiano erfolglos in Deutschland durchzusetzen versuchten, hellsichtige und kenntnisreiche Besprechungen von dessen Büchern geschrieben.

Schon, als Patrick Modiano hierzulande keinen Verlag fand, schrieb Grössel über seine Bücher

Der Band mit Grössels Essays und Kritiken zur französischen Literatur, den Norbert Wehr jetzt vorgelegt hat, schlägt einen weiten Bogen und lässt sich als eine zwar subjektive, aber gerade deshalb umso ergiebigere und instruktivere kleine französische Literaturgeschichte lesen. Es beginnt mit Stendhal und endet mit Modiano. Grössel setzt Schwerpunkte, seine Analysen sind heute noch unübertroffen. Mit dem Faschismus kollabierende und ihn ideologisch noch befeuernde Autoren wie Drieu La Rochelle und Céline interessieren Grössel aus persönlichen und zeitgeschichtlichen Gründen besonders. Sehr differenziert und mit langem Atem liest er ihre Texte und zeigt ihre Grenzen auf, gerade bei Céline, dessen Sprachgewalt und formale Errungenschaften er genau erkennt. Und auch bei dem weitaus konventionelleren Drieu wendet er sich sachlich und klar gegen eine "Verhätschelung", die ihm angesichts seiner schillernden und irrlichternden Existenz früh zuteil wurde. Die später erstaunlich relativierte Rolle Friedrich Sieburgs im besetzten Paris benennt Grössel zudem nachdrücklich.

Jean-Paul Sartre war für Grössel ein unumgänglicher Fixpunkt. Es ist brillant, wie er Sartres Umdeutung des kommunistischen Aktivisten Paul Nizan aufdeckt oder seine Definition des "Engagements" bei dem das L'art pour l'art ins Äußerste treibenden Stéphane Mallarmé nachvollzieht. Wie nebenbei streut Grössel dann doch immer wieder Anmerkungen zu den Erscheinungsformen des aktuellen Literaturbetriebs ein: "Wir brauchten eine fortlaufende Literaturdiskussion, die nicht vom Kalender, sondern von Neugier und Phantasie vorangetrieben wird", schreibt er 1976. Und in der Süddeutschen Zeitung findet sich in einer Sartre-Besprechung aus dem Jahr 1983 der zukunftsweise Satz: "Könnten die Funken von Sartres kämpferischer Literaturkritik auf die Bundesrepublik überspringen - Autoren und Leser hierzulande hätten aufregende Zeiten vor sich."

Hanns Grössel: Im Labyrinth der Welt. Essays und Kritiken zur französischen Literatur. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Norbert Wehr. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2017. 542 Seiten, 30 Euro.

© SZ vom 26.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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