Literaturgeschichte:Lang, heiß und lechzend

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Peter von Matt erkundet Küsse der Weltliteratur. Die Stärke liegt im deutenden Nachvollzug, der sich dem einzelnen Werk mit einer detektivischen Aufmerksamkeit fürs Detail anschmiegt.

Von Steffen Martus

Es geht um den einen Kuss, der alles Glück in sich birgt. Siebenmal stellt Peter von Matt diesen Moment ins Zentrum seiner Analyse von Werken der Weltliteratur. Den ersten Kuss erinnert die Protagonistin von Virgina Woolfs "Mrs Dalloway" als den "köstlichsten Augenblick ihres ganzen Lebens". Wer begreifen will, warum sie sich im Marionettenspiel der britischen High Society nicht abhandenkommt, der muss diese Szene verstehen. Als Gegenstück folgt F. Scott Fitzgeralds "The Great Gatsby". Während sich bei Virginal Woolf eine Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg wie verlogen auch immer um Contenance bemüht, gehen rund um New York die Schlachten im Kampf um Geld und Macht einfach weiter. Es bedeutet Wahnsinn, wenn hier einer das einfache Glück eines vergangenen Kusses wiederzugewinnen versucht.

Von den Roaring Twenties schreitet von Matt rückwärts durchs 19. Jahrhundert, von Gottfried Keller über Franz Grillparzer zu Heinrich von Kleists Novelle über die "Marquise von O...", in der sich der Vater der Titelheldin mit "langen, heißen und lechzenden Küssen" über seine Tochter hermacht. Schließlich gelangen wir mit Marguerite Duras' "Moderato cantabile" und Tschechows "Der Kuss" auf die weit ausladende Zielkurve. Der Bogen führt damit von jenen Küssen, denen nur religiöse "Schlüsselworte" gerecht werden, zu einer metaphysisch ausgekühlten Psychologie der Sehnsucht. Tschechows Held, der Stabshauptmann Rjabović, "ein ganz Unansehnlicher mit einem Luchbärtchen, der im falschen Moment in ein Zimmer stolpert" und versehentlich geküsst wird, weiß um das Trügerische seines Verlangens nach dem einmal erlebten Glück.

Peter von Matt: Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur. Carl Hanser Verlag. München 2017. 288 Seiten, 22 Euro. E-Book 16,99 Euro. (Foto: Verlag)

Offenkundig will von Matt keine Kussgeschichte der Literatur erzählen. Andernfalls hätten die Kapitel leicht in eine literaturhistorische Abfolge gebracht werden können. Er nutzt vielmehr einzelne Szenen der Lippenbegegnung, um von dort aus das Handlungsgefüge der Romane und Erzählungen zu rekonstruieren. Dabei greift er weit aus, bisweilen so weit, dass der Kuss in Vergessenheit gerät. Letztlich interessiert ihn die "Individualität des Werks", die er sich mithilfe der "Osculogie" behutsam erschließt. Das Vor- und Nachwort dazu liefert Novalis, der in jeder "guten Erzählung" etwas "Unbegreifliches" vermutete, das unsere Weltsicht von Grund auf verändert. Getragen aber werden die Analysen von einer eigentümlich melancholischen Einsicht in die Verfassung des Menschen, dem "einzigen Lebewesen auf dem Planeten, das vom Glück weiß", und eben deswegen auch das Unglück kennt.

Die Stärke der Analyse von "Sieben Küsse" liegt im deutenden Nachvollzug, der sich dem einzelnen Werk mit einer geradezu detektivischen Aufmerksamkeit fürs unscheinbare Detail anschmiegt. Schwächer werden die Ausführungen in der Regel dann, wenn von Matt vom Konkreten zum Allgemeinen wechselt. "Die Literatur" "denkt" szenisch? Ja, manchmal, aber nicht immer und vor allem nicht zu allen Zeiten und nicht in allen ihren Formen. Sie agiere subversiv und verkehre die scheinbar natürlich gegebene Ordnung? Gewiss, aber manchmal bestätigt sie diese auch mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln. "Die Literaturwissenschaft" missachte das Konzept des unzuverlässigen Erzählers oder verfüge über keine Beschreibungssprache für den Rhythmus von Texten? Da wären viele Narratologen wohl anderer Meinung.

Solche grummelnden oder ein wenig überreizten Stellen überliest man leicht. Was diese Studien in ihren besten Momenten so eindrucksvoll macht, ist die Fähigkeit, dem Leser auch historisch fernliegende Texte sehr nahezubringen. Von Matt geht mit seinen Gegenständen bewundernswert klug um und lässt uns an der ästhetischen Erfahrung literarischer Größe teilhaben. Er vermittelt ebenso scharfsinnig wie unterhaltsam nicht allein das "Glück und Unglück" in der Literatur, sondern der Literatur selbst. Jeden Text, den von Matt mit untrüglichem Gespür für poetische Qualität ausgewählt hat, möchte man nach der Lektüre seiner Deutung sofort selbst in die Hand nehmen, lesen, weiterlesen, wiederlesen - und vielleicht sogar die eine oder andere Stelle hingerissen küssen.

© SZ vom 20.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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