Literaturfestival Berlin:Blauer Himmel ist selten zu sehen

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Bei dem internationalen Festival hieß ein Schwerpunkt "Die Zukunft der Städte": Krisenreporte der Autoren trafen auf die Forderung nach "positiven Stadtromanen".

Von Hans-Peter Kunisch

"Visions 2030", so hieß ein Schwerpunkt beim 15.Berliner Literaturfestival, das am Wochenende zu Ende ging: Schriftsteller und Wissenschaftler debattierten über "die Zukunft der Städte", von Havanna bis Luanda, von Tokyo bis Bogotà. Das ambitionierte Programm funktionierte erstaunlich gut. Es gehört zum Versuch des Berliner Festivals, über die Präsentation von Buchpremieren hinauszukommen und mit Veranstaltungen zur "Zukunft des Feminismus" die Literatur als Medium sozialer oder politischer Diskurse zu inszenieren. Die Städte erwiesen sich als günstiges Thema: sie sind der Lebensraum vieler Autoren, häufig der Schauplatz ihrer Bücher und das Terrain ihrer Recherchen.

Die Städte des Westens trifft die Kritik an der Gentrifizierung

Als der 1973 geborene Pakistani H.M. Naqvi - Autor des noch nicht ins Deutsche übersetzten Romans "Home boy" über New Yorker Immigranten - in Karatschis berüchtigtem Viertel Lyari für ein neues Buch recherchieren wollte, sagte ihm der Freund, bei dem er wohnen sollte: "nicht jetzt", und die Woche darauf: "noch nicht". Es werde geschossen. Es gebe Bandenkriege. Die hörten erst auf, als die Gangster-Bosse sechsundzwanzig Public-Viewing-Bildschirme aufstellen ließen: Fußball-WM. Einen Monat lang passierte nichts.

"Gangster?Sie selber sehen sich wohl als Sozialarbeiter", warf Naqvis Landsmann Mohammed Hanif ein, der mit dem Roman "Eine Kiste explodierender Mangos" bekannt wurde. Es sei, meinte Hanif, der nach Jahren in London wieder in Karatschi lebt, wie aus Mafia-Strukturen bekannt: wo der Staat im Sozial- und Arbeitswesen versagt, ist der Ersatzstaat gefragt. Auch er muss für seine Untertanen sorgen.

Karatschi, dessen Einwohnerzahl sich in fünfzehn Jahren auf über 13 Millionen verdoppelt hat, ist die am schnellsten wachsende Megacity der Welt, und ein Armenhaus, dessen räumlichen Anfang und Ende keiner kennt. Eine Katastrophe? "Ich weiß nicht", meinte Hanif, "solange das Klima bleibt, ist es auch eine verführerische Stadt. Es ist das ganze Jahr warm, auch in der Nacht, es fällt kaum Regen. Man braucht nicht mal ein Dach über dem Kopf. Dort kann man immer anfangen."

Ähnlich war es in New York, es ist höchstens ein halbes Jahrhundert her. Heute fliehen die Erschöpften, die Künstler, "alle, die es satt haben, 3000 Dollar pro Monat für ein Souterrain-Rattenloch ranschaffen zu müssen", berichtete der amerikanische Autor Michael Cunnigham ("The Hours", "The Snowqueen"), "doch am nächsten Tag taucht einer auf, und sagt, ich will dieses Rattenloch haben." Es sind aber andere Leute, die kommen und gehen: "Wer jetzt Riesenstatuen machen will, die noch keiner kauft, geht nach L.A.", meinte Cunnigham. "New York ist nicht mehr 'edgy'", kantig, es hat einen Schmerbauch, ohne zufrieden zu sein.

Die Kritik an der sozialen Verengung des ehemals breit gefächerten Stadtraums ist wohl das Leitmotiv in der Kritik an den klassischen Metropolen des Westens. Nur auf den High-Line-Park im Meatpacking District von Manhatten, der auf einer alten Hochbahn-Trasse errichtet wurde, wollte Michael Cunningham nichts kommen lassen. Hier halte sich die Gentrifizierung in Grenzen, hier habe man dafür gesorgt, dass in der dritten Reihe ärmere Leute bleiben konnten, habe ihre Häuser nicht abreißen lassen.

Es standen bei diesen Veranstaltungen zur Zukunft der Städte aber vor allem Autoren aus Asien, Osteuropa und dem Nahen Osten im Mittelpunkt, moderiert von dem 1948 in Bagdad geborener Architektur-Professor Omar Akbar, der an der TU Dessau lehrt. Den vor Fantasie sprühenden rumänischen Autor Mircea Cartarescu, der sein "hässliches, graues Bukarest" mit seiner "Orbitor"-Trilogie in den Atlas der Weltliteratur hineingeschrieben hat, befragte er zur jüngeren Vergangenheit, zu Ceausescus monumentalem "Haus des Volkes". Habe er damit nicht "Salzsäure ins Gesicht der Stadt geschüttet"?

Cartarescu blühte auf: sein Thema ist das Verhältnis von Städtebau und Macht. Er erzählte von den verbotenen nächtlichen Streifzügen seiner Jugend um die werdende "Casa Poporului" herum, vom Waten im Schlamm der Baustelle. Dann goss er Hohn und Spott über den Nero verwandten "Conducator", der für seinen eigenen Nachbau von Neros Domus-Aurea-Koloss ein altes Bukarester Villen-Viertel ruiniert habe. "Eine große Schande" sei dieser Bau für das rumänische Volk, das all das erduldet und mitgetragen habe. Doch ausgerechnet Cartarescu zeigte sich hoffnungsstark, dass Politik und Zivilgesellschaft seine Stadt neu prägen können.

In Bukarest wachse der Gemeinsinn. Die Absetzung und Inhaftierung des Bukarester Bürgermeisters Oprescu wegen Korruptionsverdachtes sei ein Signal wie die Wahl des Hermannstädter Bürgermeisters Klaus Johannis zum Staatspräsidenten. Nun sei die Zeit reif für den Mathematik-Professor und Umweltaktivisten Nicusor Dan, der mit steigender Resonanz bei der Bevölkerung für die Erhaltung historischer Bauten, für Parks und die Förderung des öffentlichen Nahverkehrs eintrete. Schon in mehr als zwanzig städtebaulichen Konflikten habe sich "Dan Quijote" juristisch gegen die Stadt durchgesetzt.

Kann die Zivilgesellschaft den Stadtraum prägen?

Die deutschen Stadt-Theoretiker Stephan Rammler und Stefan Schurig hätten den rumänischen Autor am liebsten umarmt. In ihrer Diskussion mit dem libanesisch-kanadischen Autor Rawi Hage und María Sonia Christoff aus Buenos Aires kämpften sie gegen den Pessimismus der Schriftsteller an. Er gehört für sie zum "apokalyptischen Mainstream", der die Zukunft der großen Städte verbaut. Rammler plädierte wie in seinem Buch "Schubumkehr" (2014) für ein Überdenken des Begriffs Mobilität an und für polyzentral angelegte Städte, die den energieextensiven Autoverkehr eindämmen könnten. Es gehe nicht um Flucht vor urbanen Strukturen, sondern um ihre Förderung. Je konzentrierter Städte organisiert seien, desto mehr Einrichtungen ließen sich etwa mit Fahrrädern statt mit Autos erreichen.

Die Forderung der Stadt-Theoretiker nach "positiven" Stadt-Romanen klang freilich in den Ohren der Schriftsteller arg nach sozialistischem Realismus und sorgte für eine gewisse Heiterkeit. Literatur lasse sich nicht auf den blauen Himmel verpflichten. Er sei nun mal oft nicht zu sehen. Und im Libanon, so gab Rawi Hage zu bedenken, habe Rafiq Hariri - für den Moderator Omar Akbar ein städtebaulich "wunderbarer Politiker" - zwar viel Privatvermögen für die Förderung der Urbanität Beiruts eingesetzt, es sich durch seine Firma "Solidere" dann aber wieder zukommen zu lassen.

© SZ vom 22.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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