Literatur:Zeit des Glücks

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Hans Pleschinski hat die Lebenserinnerungen von Else Sohn-Rethel veröffentlicht

Von Sabine Reithmaier, München

Ein schönes, beschwingtes Deutschland hat Else Sohn-Rethel erlebt, kreativ, heiter und weltoffen. "Ich war glücklich, ob es regnete oder nicht" - das Zitat, das Hans Pleschinski als Titel für ihre Lebenserinnerungen (C.H.Beck) gewählt hat, trifft exakt den Tonfall der Aufzeichnungen, die von einem rundum geglückten, freilich auch sehr privilegierten Leben erzählen und zudem ein Panorama der Zeit zwischen 1870 und 1900 entstehen lassen.

Genau genommen ist das Buch ein Nachfolgeprodukt von Pleschinskis jüngstem Romans "Königsallee". Darin geht es um das fiktive Wiedersehen von Thomas Mann und Klaus Heuser, jenem Mann, in den sich der Schriftsteller 1927 bei einem Urlaub auf Sylt verliebt hatte. Während der Recherchen in Düsseldorf tauchte in der Familie Heusers immer wieder der Name seiner Großmutter auf, Else Sohn-Rethel, familienintern nur die "wilde Else" genannt. "Irgendwann fragte mich Heusers Nichte Sabine Benser-Reiman, ob ich deren Memoiren einmal lesen wolle."

Pleschinski wollte und war sofort begeistert. Schließlich gibt aus dieser Zeit nur wenige schriftliche Lebenserinnerungen von Frauen, abgesehen von Autobiografien, die Schriftstellerinnen wie Fanny Lewald, Malwida von Meysenburg oder später Lily Braun verfassten. "Aber in Elses Aufzeichnungen leben die Belle Epoque und die Gründerzeit auf, sie entwirft ein einmalig geschlossenes Zeitbild", sagt Pleschinski.

Else Sohn-Rethel begann erst 1928, mit 75 Jahren, ihre Memoiren zu schreiben. Eigentlich plante sie auch deren Veröffentlichung, doch dann starb sie im Januar 1933, wenige Tage bevor Hitler die Macht an sich riss. Das Manuskript wurde vergessen, bis es die Nichte auf dem Dachboden fand.

Else Sohn-Rethel (1853 - 1933) in ihrem Hochzeitskleid, gemalt von ihrem Mann Carl Rudolph Sohn. (Foto: privat)

An Selbstbewusstsein mangelt es der Frau nicht. "Ich glaube, ich war ein tolles Kind", erinnert sie sich. Ein wohlhabendes auf jeden Fall, geboren am 14. März 1853 in Rom. Vermögen und Geld waren so reichlich vorhanden, dass ihr Urgroßvater Mendel Wolf Oppenheim, Bankier in Königsberg, ausdrücklich auf die Einheirat von Künstlern in die Familie hoffte. Tochter Elisabeth tat ihm den Gefallen, als sie den angesehenen Maler August Grahl ehelichte. Das Paar zog nach Dresden, die Oppenheims hinterher, und Gottfried Semper wurde beauftragt, zwei Villen zu bauen - eine für jede Jahreszeit. Dort in der Villa Rosa und im Palais an der Bürgerwiese wuchs Else auf, behütet nicht nur von Urgroßvater und Großeltern, sondern auch von ihrer Mutter Marie, die wegen der Geisteskrankheit ihres Mannes, des Malers Alfred Rethel, mit der Tochter wieder ins Elternhaus zurückkehrte.

Pleschinski hat in die Aufzeichnungen nur wenig und sehr behutsam eingegriffen. Er korrigierte Datierungsfehler, überprüfte die Namen, kürzte und schrieb ergänzende Kommentare, die den privaten Erinnerungsstrom historisch einordnen. Die wilde Else ist ihm ans Herz gewachsen, auch weil ihr bewusst war, wie privilegiert sie lebte. "Aber ich bin dankbar dafür und glaube nicht, dass ich meine Bevorzugung jemals missbraucht habe", notierte sie.

Ihr Schreibstil ist einfach. Vertiefen und verdichten mag sie nichts, sie teilt vieles, was längst vergessen ist, eher beiläufig mit. 1867 trifft sie zufällig auf einem Ausflug nach Berchtesgaden den abgedankten König Ludwig I. "Es war auf dem Rückweg, als plötzlich aus dem Walde ein alter Jäger in fast zerrissenem Rock, sehr hässlich mit einer Art Geschwulst auf der Stirn, hervorkam." Königlich habe er nicht gewirkt, aber doch sehr liebenswürdig, berichtet Else. Im selben Jahr besucht sie in München die königliche Erzgießerei Ferdinand von Millers, eines Freundes ihres Großvaters. Zwar beeindruckt sie der Gedanke, dass in diesen Räumen die Statue der Bavaria gegossen worden war. Aber eigentlich interessiert sie sich nur für einen der Söhne des Hauses, der wie sein Vater Ferdinand heißt und später Direktor der Akademie der Bildenden Künste in München wurde.

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Kaiserfeste, Scharaden, Theaterspiel, Schlittenpartien - ein angenehmes Leben. Dazu die Reisen, die zeitaufwendig waren. Von Dresden nach Holzkirchen fuhr zwar bereits die Bahn. Aber von dort aus bis zur Kur in Bad Gastein dauerte es mit den Reisewagen noch sechs Tage.

1869 erlebt sie den Brand der Semperoper, "unbeschreiblich schön, aber auch ebenso traurig". Sie beschreibt die Riesenrauchsäule über der Stadt, den alles verdunkelnden Ascheregen - das liest sich fast wie eine Vorwegnahme der späteren Bombardierung. Semper, der inzwischen in Wien lebte, entwarf übrigens aus der Ferne das neue Opernhaus. Weil er 1849 am Dresdner Maiaufstand mitgemischt hatte, durfte der weltberühmte Architekt den sächsischen Boden nicht betreten.

Else heiratete Carl Sohn, einen Porträtmaler aus Düsseldorf. In späteren Jahren durfte er sogar die alte Queen Victoria porträtieren. Anfangs aber drängte es ihn, seine junge Frau zu malen. "Er malte und ich sah ihn verliebt an, weiter hatten wir ja auch nichts zu tun." Düsseldorf war damals jedenfalls eine wirkliche Kunstmetropole, mehr als 1000 Maler lebten in der Stadt. Wer auf sich hielt, bestellte dort sein Porträt.

Zu den Lieblingsstellen Pleschinskis zählt Elses Beschreibung eines Aufenthalts in Venedig. Dort entdeckte sie Richard, Cosima und Siegfried Wagner, wie sie der Kaffeehausmusik auf dem Markusplatz lauschen. "Das macht einem sogar Wagner sympathischer", sagt Pleschinski. Überhaupt: Die Offenheit aktueller Kunst gegenüber ist in dieser Familie beispielhaft. Else versucht, "immer alles künstlerisch Neue und Vielversprechende, das irgend zu erreichen war, wahrzunehmen . . ." Sie fährt nach Bayreuth, lässt sich wenige Monate nach Wagners Tod 1883 von "Parsifal" mitreißen. Sie erlebt Franz Liszt live, "aber wie er spielte, ist in Worten nicht auszudrücken. Viele weinten, man war geradezu fassungslos." Else selbst tritt häufig als Sängerin auf, auch unter dem Dirigat von Johannes Brahms - "er hatte eine ganz eigene Art zu dirigieren, nämlich mit beiden flach ausgestreckten Händen" - oder begleitet von Clara Schumann am Klavier.

Der Münchner Autor Hans Pleschinski arbeitet für den BR und ist Direktor der Abteilung Literatur der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. (Foto: Beck Verlag)

Pleschinski fasziniert es, wie gesellig die Menschen damals waren. "Sie lebten nicht so vereinzelt dahin, nicht so aus der Konserve. Wenn sie etwas hören oder sehen wollte, mussten sie es selbst machen."

Verblüffend auch, dass Else Sohn-Rethel, Tochter einer jüdischen Familie, von keinerlei antisemitischen Erfahrungen berichtet. Entweder lebte sie zu behütet oder, was Pleschinski hofft, sie erwischte tatsächlich eine der Perioden, in denen das Zusammenleben friedlich verlief, die Assimilation so weit vorangeschritten war, dass Konfessionen kein Thema mehr waren.

"Die Frau war keine Schriftstellerin, keine Historikerin, sondern sie nimmt einen mit auf eine Lebensreise", sagt Pleschinski. Beglückend sei das und erfrischend. Und ein Beweis dafür, dass es sich lohnt, offensiv zu leben.

Lesung und Gespräch mit Hans Pleschinski, Montag, 4. April, 20 Uhr, Literaturhaus

© SZ vom 04.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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