Literatur und Albtraum:Die Toten sterben unsanft

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Erstmals auf Deutsch: Der Suhrkamp-Verlag veröffentlicht zum dreißigsten Todestag Samuel Becketts die zu Lebzeiten nie publizierte Erzählung "Echos Knochen" auf Deutsch.

Von Lothar Müller

Anfang Januar 1938 riefen die Zeitungsjungen in Dublin die Nachricht aus: "Ire in Paris niedergestochen". Um wen es sich handelte, konnte man in der gedruckten Ausgabe des Evening Herald erfahren. In der Nacht zum Dreikönigstag hatte ein Zuhälter Samuel Beckett und seine Begleiter, Alan und Belinda Duncan, die von einem Restaurantbesuch kamen, belästigt und dann Beckett einen Messerstich versetzt, der Herz und Lunge nur knapp verfehlte. Aus dem Krankenhaus konnte er Ende Januar entlassen werden, die Schmerzen beim Atmen aber hielten länger an, und eine Narbe blieb.

James Joyce, der in Paris lebte, bezahlte die Kosten für das Einzelzimmer und brachte ihm eine Leselampe ins Krankenhaus, seine Frau Nora Vanillepudding, Beckett erhielt manchen Besuch aus der Literatur- und Kunstszene, aber die Zeitungsjungen hatten nicht gerufen "Irischer Schriftsteller in Paris niedergestochen". Mehr als ein Geheimtipp war der junge Beckett nicht. Daran änderte auch sein Roman "Murphy" wenig, dessen Fahnen ihm ins Krankenhaus gebracht wurden und der wenig später erschien. Und später, als der große Ruhm kam, nach dem Zweiten Weltkrieg, nach "Warten auf Godot", wurde aus dem jungen Beckett eine fragmentarisch überlieferte Vorläuferfigur.

Aus dem Schatten des alten Beckett, des Mannes mit den Habichtsaugen und dem schluchtenförmigen Stirnfaltenrelief auf den ikonischen Fotografien, trat er erst nach dessen Tod am 22. Dezember 1989 heraus, in der großen Beckett-Biografie von James Knowlson, mit der Publikation seines Erstlingsroman "Traum von mehr bis minder schönen Frauen", in den Erinnerungen seiner Freunde und in der großen Briefausgabe, deren letzter Band auf Deutsch erst 2018 herauskam.

Immer neue Facetten gewann in diesen postumen Publikationen der junge Mann mit großen Anlagen zum Nerd und ebenso großen zum Bohémien, dessen Blick durch runde Brillengläser auf eine Welt fiel, die ihm nicht behagte, dem kein noch so entlegenes Buchregal im Trinity College entging, der mit seiner Mutter strindberghafte Kämpfe ausfocht und von panikartigen Attacken heimgesucht wurde, die ihn Zuflucht bei dem Psychoanalytiker Wilfreds Ruprecht Bion in London suchen ließen.

Den Meister der fortwährenden "Verarmung", der Verknappung und des Entzugs der Worte gibt es in "Echos Knochen" noch nicht. (Foto: Getty Images)

Mitten hinein in diese Welt des jungen Nerd, in dem der Furor der Formzertrümmerung auf ein hochgespanntes Formbewusstsein traf und der damals gerade Anlauf für "Murphy" nahm, führt die zu Lebzeiten nie veröffentlichte Erzählung "Echos Knochen", die der Suhrkamp Verlag zum dreißigsten Todestag Becketts nun auf Deutsch herausgebracht hat.

Den Text hat Beckett im Spätherbst 1933 auf Verlangen des Lektors Charles Prentice geschrieben, der im Verlag Chatto & Windus Becketts Erzählungsband "More Pricks than Kicks" (1934 dt. "Mehr Prügel als Flügel") herausbrachte und hoffte, durch einen größeren Umfang einen besseren Verkaufserfolg erzielen zu können. Als er dann aber Anfang November die - mit 13 500 Wörtern überraschend lange - Erzählung in Händen hielt, teilte er dem Autor mit, sie sei unpublizierbar: "Sie ist ein Albtraum. Einfach fürchterlich persuasiv. Sie macht mich ganz kribbelig. Die gleichen schrecklichen und plötzlichen Perspektivwechsel, die gleiche wilde unauslotbare Energie der Gestalten. Es gibt Passagen, mit denen ich nichts anfangen kann. Ich bedaure sehr, das so zu empfinden... ,Echos Knochen' hat mich wahrlich getroffen wie ein Schlag auf den Kopf". Erst 2014 wurde die auf Englisch geschriebene Erzählung veröffentlicht.

Charles Prentice war Altphilologe und ein guter Leser, Berührungsängste vor der eigenwilligen Intellektualität Becketts hatte er nicht, er hatte Becketts Essay über Proust auf den Weg gebracht und den Erzählungsband angenommen. Beckett wiederum hatte, während er an "Echo's Bones" saß, an seinen Freund Thomas McGreevy geschrieben, er habe in die Erzählung "alles gesteckt, was ich wusste, und - besser noch - vieles, was mir vorschwebte", und war nach der Ablehnung entsprechend entmutigt. Der junge Beckett wusste sehr, sehr viel, und dass er so viel davon in seine Erzählung hineinsteckte, dürfte dazu beigetragen haben, dass sie für seinen Lektor zum Albtraum wurde.

Die Furien und Dämonen, die in "Echos Knochen" ihr Unwesen treiben, entstammen der alteuropäischen Liaison von Literatur und Gelehrsamkeit, auf die im frühen zwanzigsten Jahrhundert die literarische Avantgarde so gern zurückgriff. Der Held der Erzählung, Belacqua, ist eine Figur aus dem "Purgatorio" von Dante, eine Verkörperung der Trägheit, in der sich Beckett spiegelte, wie ironisch gebrochen auch immer. Er war in einer der Erzählungen des Bandes "Mehr Prügel als Flügel" während einer Operation gestorben, die Grundidee von "Echos Knochen" war, ihn wieder zum Leben zu erwecken. Ein Zitat wird zum Gespenst und Hirngespinst: "Belacqua ist ein Mensch, der, gestorben und begraben, zurückversetzt in den Dschungel, ja wirklich in den Dschungel, restlos erschöpft und im Vollgefühl seiner Schwächen tagein, tagaus, vom Herzrasen geplagt, zigarrerauchend und nasebohrend und ganz schrecklich unter seinem Ausgesetztsein leidend, auf dem Zaun hockt."

T.S. Eliot hatte in sein bei der akademischen Jugend sehr erfolgreiches Langgedicht "The Waste Land" (1922) halbparodistische Fußnoten eingefügt, der Großmeister der gelehrten Anspielungsgewitter aber war seit dem "Ulysses" James Joyce, der Meister des jungen Beckett, bei dem sich ein Proust- und ein Joyce-Essay gegenüberstehen. "The dead die hard", so beginnt "Echos Knochen", von Chris Hirte mit "Die Toten sterben unsanft" übersetzt, was naturgemäß nur eine der Facetten des Originals hervorhebt.

Samuel Beckett: Echos Knochen. Herausgegeben von Mark Nixon. Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Chris Hirte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 126 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)

"The Dead" hieß die letzte, lange Erzählung in Joyce' "Dubliners", und Beckett hatte den Ehrgeiz, eine Erzählung in Form eines Triptychons an das Ende seines Bandes zu setzen. Der linke Flügel zeigt Belacquas Auferstehung und Begegnung mit der Prostituierten Zaborovna Privet, im Mittelteil verhilft Belacqua dem zeugungsunfähigen Lord Gall of Wormwood zu einem Nachkommen, - es wird aber ein Mädchen anstatt des erhofften männlichen Erben. Im Schlussteil sitzt Belacqua auf seinem eigenen Grabstein und schaut dem Totengräber Doyle zu, wie er sein Grab aufgräbt. Es ist aber darin natürlich nichts zu finden - statt Knochen nur ein paar Steine.

Man kann sich gegen diese wüste Prosa, in der die Markennamen von Zigarren mit den letzten Dingen Unzucht treiben, mit allerlei Tricks wappnen. Wer sich in den Anspielungsgewittern nicht verlieren will, kann mit Hilfe der - gegenüber der englischen Originalausgabe ausgedünnten - Fußnoten die Handbibliothek Becketts von Alfieri und Augustinus über Ovid, Ruskin und Schopenhauer bis zu Teresa von Avila besichtigen und im scheinbar Sinnlosen eine Obszönität entdecken.

Oder er kann, wie der Übersetzer Chris Hirte vorschlägt, aus dem wuchernden Fleisch der Erzählung die Knochen der zwischen Kalauer und Tiefsinn changierenden Dialoge herauslösen und in ihnen Vorübungen für den Beckett von "Warten auf Godot" und "Endspiel" erkennen. Es hilft aber nichts, den Meister der "Verarmung", der Verknappung und des Entzugs der Worte gibt es hier noch nicht, hier ist noch Joyce, der Meister des Immer-noch-Mehr, der immer neuen Hinzufügungen, der Wettergott, für den Beckett seine Anspielungsgewitter entfesselt.

Es ist aber nicht ratsam, bei der Totengräberszene dauernd an "Hamlet" zu denken. Sie ist auch so ziemlich gut: "Glaub bloß nicht", sagt Doyle, während er die Spitzhacke hebt, "dass du, ein veritables Hirngespinst, mir bange machen kannst. Mich hat der Alkohol gestählt." Und: "Nieder sauste die Hacke auf den geheiligten Moder wie der Rammbär im Märchen, ein Schlag wie selten einer, der Grabstein wankte, von Belacquas letzter Ruhestätte spritzte eine Sandfontäne hoch - ihm ins Auge." Die Klarstellung Belacquas gegenüber seinem Totengräber klärt nichts: "Der Tote bin ich." Jetzt lebt er auch auf Deutsch.

Ein Märchensatz, den Brüdern Grimm abgelauscht, steht am Ende: "So it goes in the world." "So geht es in der Welt."

© SZ vom 02.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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